Rheinaufwärts

Rheinwanderer einst und jetzt, beide sehr lesenswert.

«…dass ich alles für erzählenswert halte, auch einen Rheinspaziergang von Bad Ragaz nach Landquart.»

Findet Franz Hohler in seinem jüngsten Buch mit dem so simplen wie sinnigen Titel „Rheinaufwärts“. Den erwähnten Spaziergang machte er am 8. April 2021, auf der 13. Tagesetappe der Wanderung vom Rheinfall zur Rheinquelle. Der Start war am 19. Mai 2020 in Schaffhausen erfolgt, und beim Einsteigen in den Zug in Diessenhofen zurück nach Schaffhausen und dann nach Zürich dachte Hohler, „warum wandere ich nicht von hier aus weiter am Rhein entlang, so weit, bis ich zu seiner Quelle komme?“ Am 26. September 2022, am Tag 29 seiner Rheinreise zu Fuss, erreicht Franz den Lai da Tuma, den Ursprung des Rein Anteriur: „Ich gehe zum See hinunter, knie am Ufer nieder, streichle mit der Hand seine Oberfläche und wünsche dem Wasser eine gute Reise.“

Wenn einer erzählen kann… Dann wird aus einer Ufertour Poesie, dann wird aus dem schriftlichen Festhalten vom Aufwärtsgehen am abwärts fliessenden Wasser mehr als Tagebucheinträge, dann werden Campingplätze und Mückenschwärme, Autobahnbrücken und Vogelrufe zu einem so flüchtigen wie tiefgründigen Geflecht von Gegenwärtigem und Erinnertem, Historischem und Biographischem. Die Grossmutter von Hohler, so lesen wir am fünften Tag, wuchs in Sisseln am Rhein auf, und erzählte ihm von den Flössern in ihrem Dorf, „einem Beruf, der rauhe Burschen mit harten Fäusten anzog – sie hat dann einen Weber geheiratet, der für seine Arbeit feine Finger brauchte.“ Er hat sie seinem Enkel vererbt.

In Reichenau fragte sich Franz Hohler am 3. Juni 2021, welchem Rhein er folgen werde, dem Vorder- oder dem Hinterrhein. Er entschied sich für den Vorderen. Vor knapp 200 Jahren wäre er wohl dem Hinteren entlang gewandert, durch die Via Mala und die Roflaschlucht zum Dorf Hinterrhein und weiter gut vier Stunden taleinwärts. Damals galt die Quelle des Hinterrheins am Paradiesgletscher unterhalb des Rheinwaldhorns als die eigentliche des Rheins; der Ort heisst immer noch Ursprung, nur das Eis ist bis zum Gipfelgrat verschwunden.

„Die Hitze des Sommertages und die, vier Stunden weite, Fußwanderung hatten meinen Körper gerade so weit abgespannt, um, in müßiger Ruhe hingestreckt, der Einbildungskraft und ihren Schwingungen die Alleinherrschaft über mich einzuräumen.“ So präzise beschreibt der adelige Bündner Offizier und Jurist Peter Conradin von Tscharner (1786–1841) im Rhein-Kapitel des zweibändigen Werkes „Wanderungen durch die Rhätischen Alpen“ seine Rast am Ursprung. Aus den 1829 und 1831 publizierten Bänden mit dem Untertitel „Ein Beytrag zur Charakteristik dieses Theils des Schweizerischen Hochlandes und seiner Bewohner“ hat nun Andreas Simmen eine feine Auswahl getroffen, sie mit klugem Nachwort und 22 Aquatinten von Johann Jakob Meyer versehen. Doch zurück zum „König der Flüsse“, wie ihn der Hinterrhein-Spaziergänger nennt: „Der dumpfmurmelnde Bach zu meinen Füßen, das einzig Lebende in dieser weiten Gruft, ward mir jetzt zur Quelle stets wechselnder Bilder weithin den Ufern des großen, des gesegneten und gefürchteten Stromes entlang.“ Stark, nicht wahr, wie Schriftsteller von Tscharner, der zeitweise auch als Fabrikunternehmer, Postdirektor und Zeitungsredaktor tätig war, die Gedanken entlang dem Wasser strömen lässt.

Das macht auch Hohler immer wieder. Und im Epilog von „Rheinaufwärts“ notiert der Flusserzähler am 22. Oktober 2022 in Bonn noch drei Sätze: „So sieht er also aus, wenn er erwachsen ist, mein Rhein. Gut hat er’s gemacht. Ich bin stolz auf ihn.“

Heute, 1. März 2023, feiert Franz Hohler seinen 80. Geburtstag. Cordiala gratulaziun!

Franz Hohler: Rheinaufwärts. Luchterhand, München 2023. € 22,00.

Franz Hohler: Buchpremiere von „Rheinaufwärts“ am 2. März 2023 um 20 Uhr im Kaufleuten Zürich, https://kaufleuten.ch/event/franz-hohler-1/
Der Kabarettist und Schriftsteller im Dialog mit Nadja Sieger („Nadeschkin“) am 8. März 2023 um 18 Uhr in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern, Eintritt frei.

Peter Conradin von Tscharner: Wanderungen durch die Rhätischen Alpen. Ein Beytrag zur Charakteristik dieses Theils des Schweizerischen Hochlandes und seiner Bewohner. Ausgewählte Texte. Mit 22 kolorierten Aquatinten von Johann Jakob Meyer. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Andreas Simmen. AS Verlag, Zürich 2023. Fr. 42.80.

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