Die Rigi gehörte zu den Bücherbergen der Schweiz, wie Eiger und Jungfrau. Zwei Romane passen bestens ins Wandergepäck.
«Wir wandern über einen Weg, der von vierzehn Bildstöcken gesäumt ist, auf den Rotstock. Er ist 1658 Meer hoch. Der Weg gefällt mir, weil er keine „Wanderautobahn“ ist, sondern über Stock und Stein führt. Trotzdem ist er sehr leicht begehbar, wenn auch zeitweise steil. Wirklich empfehlenswert. Wir brauchen eine Stunde bis zum Gipfel.»
Wie viele Gipfel hat die Rigi? Einen, zwei oder drei? Nämlich Rigi Kulm, Rigi Scheidegg und Rigi Hochflue. Ganz sicher so viele Gipfel, wobei die Hochflue so selbständig, abgesetzt und hoch ist, dass sie den Zusatz „Rigi“ nicht braucht; seit 2013 wird sie in der Landeskarte Hoflue genannt. Aber was ist dann mit dem Dossen, dem dritthöchsten Gipfel des ganzen Rigistocks, der da so mächtig am Nordrand der Alpen zwischen dem vielarmigen Vierwaldstättersee, dem Zuger- und dem Lauerzersee hockt? Und wie steht es um den Vitznauerstock, der sich bei der Anfahrt von Luzern mit dem Schiff immer mächtiger vor dem Bug aufbaut? Und die Zünggelenflue am nordöstlichsten Zipfel des Rigistocks, dicht bewaldet und unten von einem Steinbruch angeknabbert? Ja und das Känzeli, jener vielbewunderte und –bewanderte Aussichtspunkt in Spaziergangdistanz von Rigi Kaltbad, dem autofreien Hauptort auf der Rigi oben? Und eben der von Bildstöcken erschlossene Rotstock, wie im Buch „Rigi. Ein fröhlicher Roman über traurige Menschen“ von Blanca Imboden.
Bleiben wir aber vorerst bei den Gipfeln und versuchen, alle Gipfel an der Rigi aufzuzählen. 1) Rigi Kulm (1797 m), von der gemeinsamen Bergstation (1749 m) der beiden Zahnradbahnen von Vitznau und von Arth-Goldau in wenigen Schritten erreichbar ; 2) Hochflue (1699 m), nur für schwindelfreie, leiternerprobte Wanderer zu empfehlen; 3) Dossen (1685 m), einst mit einem Skilift erschlossen; 4) Rigi Scheidegg (1659 m), früher mit einem Aussichtssturm, heute mit einem halbüberwucherten Reservoir auf dem höchsten Punkt; 5) Rotstock (1658 m) mit einem noch funktionierenden Skilift; 6) Schild (1548 m), auf dessen Sonnenseite der atemberaubende Felsenweg aus der Nagelfluh herausgehauen wurde; 7) Würzenstock (1482 m), worauf auch die Kühe Gipfelglück geniessen; 8) Vitznauerstock (1450 m) – die Gersauer sagen dieser stotzigen Pyramide natürlich Gersauerstock; 9) Grat (1436 m), eine waldige Schulter auf der Südwestseite der Hochflue; 10) Spitz (1410 m), der auch Ameisenhöreli genannt wird – wer es besteigen will, muss so geschickt wie eine solche klettern können; 10) Gottertli (1396 m), von der Bergstation der Seilbahn Brunnen – Obertimpel ohne besondere Schwierigkeiten besteigbar; 11) Zünggelenflue (1091 m) tief unten im langen Nordostgrat der Hochflue.
Nur elf und nicht zwölf Rigigipfel? Da sollte sich doch das Dutzend voll machen lassen! Halt doch das Känzeli (1464 m)? Oder der Grat (1565 m) zwischen diesem und der Station Rigi Staffelhöhe (ca. 1550 m) – immerhin steht ein Kreuz auf der Grathöhe? Oder billigen wir dem Chli Dossen eine gewisse Selbständigkeit zu, obwohl er kaum auf eigenen Füssen steht wie etwa das Kleine Matterhorn? Und könnte nicht im langen Ostgrat von Rigi Scheidegg eine Kuppe zu einem Gipfel aufgewertet werden?
Einheimische Rigianer werden da sicher weiterhelfen können. Ich für mich habe meinen zwölften Gipfel an der Rigi gefunden. Er erhebt sich zwischen Weggen und Greppen am Westfuss des ganzen Gebirgsstocks. Klar, Nummer 12 gleicht mehr einem Hügel als einem Berg, aber setzt sich doch mit mehr als 40 Höhenmetern von möglichen Konkurrenten ab. Seine bescheidene Höhe: 601 Meter über Meer (über dem Vierwaldstättersee sind‘s bloss deren 167). Sein Name, der seit 2013 auf der Landeskarte allerdings nicht mehr beim Gipfel platziert ist, sondern im Villenviertel östlich davon: Rigiblick. Nicht der einzige übrigens in der Schweiz, aber der einzige Gipfel mit diesem Namen.
Jetzt aber genug der Gipfel; all die Berge, die den Übernamen Rigi erhalten haben, wie der Gaisberg als Rigi von Salzburg, zähle ich ein ander Mal auf. Dafür nun ein kurzer Blick auf zwei halbwegs neue Rigibücher. Der aufgestellte Roman von Blanca Imboden also. Ich-Erzählerin Eliane erhält einen Traumjob: Sie kann im Sommer 2021 zum 150-Jahre-Jubiläum der Vitznau-Rigi-Bahn, der ersten Bergbahn Europas, eine Artikelserie schreiben und einen Monat lang auf der Rigi wohnen. Was folgt, sind viele bewegende Begegnungen. Die Rigi ist ein Kraftort und verändert alles – auch Eliane. Und wir Leser erfahren mit ihr viel über die Rigi, so auch über frühere Besucher, die zur Feder gegriffen haben. Bei den satirischen Schriftsteller erwähnt Blanca Imboden nur Mark Twain und leider nicht auch Alphonse Daudet; die Rigitour seines Helden Tartarin ist mindestens so fröhlich wie diejenige von Twain.
Düsterer, aber nicht weniger rigi-informativ und rigi-situativ, ist der Krimi „Rigigeister. Ein Fall für Kramer“ von Silvia Götschi. Am Donnerstag, 17. Juli 2014, stossen zwei junge Frauen auf einer Wanderung auf den Rotstock sauf eine grausam verbrannte Leiche. Ermittler Thomas Kramer und sein Team glauben zunächst an einen Ritualmord, weil ganz in der Nähe eine geheimnisvolle Sekte ihr Unwesen treibt. Alle zwei Wochen treffen sich deren Anhänger auf dem Riedboden oberhalb von Rigi Klösterli und zelebrieren Sonderbares. Menschen fallen von den Bänken, Frauenkörper fliegen durch die Luft – der Sektenguru bleibt unerkannt. Das Unwetter aber, das über die Rigi hereinbricht, ist für alle eine Katastophe. Mit einem Wolkenbruch auf der Königin der Berge beginnt schon Daudets Roman „Tartarin in den Alpen“. Auf seiner Reise durch die Schweiz kommt der Held nach Interlaken, wie jetzt auch Kramer. Beide Helden steigen im Hotel Victoria-Jungfrau ab. Wie Eiger, Rigi und Matterhorn gehört auch die Jungfrau zu den Bücherbergen der Schweiz.
Blanca Imboden: Rigi. Ein fröhlicher Roman über traurige Menschen. Wörthersee Verlag, Lachen 2021. Fr. 24.90.
Silvia Götschi: Rigigeister. Ein Fall für Kramer. Cameo Verlag, Bern 2021; erste Auflage Literaturwerkstatt, Küssnacht 2014. Fr. 17.90.