Es wird gesagt, die Namenlose Kante am Bockmattli sei ein Klassiker, der in das Repertoire eines jeden Kletterers gehört. Finden wir nicht, beschliessen wir, wollen aber trotzdem hinauf. © Annette Frommherz

Mächtig stehen die Felsen vor uns, wie wir vom Wägitalersee hinauf zum Bockmattli kommen. Die Türme strecken sich zum Himmel: der Föhrenturm, der Kleine Turm und der Grosse, dem als mächtigster das Kreuz auf dem Gipfel verpasst wurde.
Mein Kletterpartner Jürg ist zugleich mein Wegbegleiter; nicht nur über die schmalen Pfade der Berge. Wir versuchen heute, ob wir auch in einer 9-Seillängen-Route als Team bestehen. Die Namenlose Kante ist unser Ziel. Ich hätte es ahnen müssen: der Name verspricht eine ausgesetzte Route. Mit Respekt begutachte ich den Felsen. Ein bockiges Mattli, dünkt es mich; vielleicht bin ich es auch selber.
Der Einstieg beginnt auf 1550 Metern. 370 Meter Kletterpartie liegen vor uns. Grosszügig überlasse ich es meinem Liebsten, vorzusteigen. Viel wichtiger ist es mir, die Höhenangst im Griff zu haben, mich voll auf das Klettern konzentrieren zu können. Manche Stellen im Fels sind speckig. Auf diese mag ich meine Füsse nicht setzen, schon gar nicht mit den Händen danach greifen. Ich suche mir meinen eigenen Weg. Während ich – normalerweise nicht maulfaul – wortkarg den Berg erklimme, plaudert mein Pendant bei jedem Stand munter weiter. Er spricht von damals, als er zum ersten Mal die Namenlose Kante in Angriff nahm. Eines Abends, berichtet er, sei er nach der Schule mit seinem Kollegen mit dem Töffli zum Wägitalersee gefahren. Am Fusse der Felsen hätten sie in Schlafsäcken übernachtet, um frühmorgens in die Kante einzusteigen. Wie schlecht seien sie doch damals ausgerüstet gewesen, die Kante noch nicht so feudal eingerichtet wie heute. So genau will ich es lieber nicht wissen.
In Zeiten, in denen man sich unsterblich glaubte und sich so manchem Leichtsinn hingab, haben die zwei Verschworenen sich aufgemacht, die Welt zu erobern. Im Glauben daran, dass eine gute Ausrüstung allein keinen Bergsteiger ausmache. Vielleicht haben sie nicht einmal darüber nachgedacht. Unbekümmert. Arglos. Unbesorgt. Womöglich blauäugig.
In diesem Augenblick sehne ich mir die Zeiten zurück, in denen alles viel leichter war, weil das Leben noch nicht so geprägt war und noch wenig Spuren hinterlassen hat. Ich merke mit einem Mal, wie oft ich früher den leichten Sinn verpasst hatte. Aber die Zeit lässt sich nicht zurückkurbeln; ich bin hier und jetzt, in der letzten Seillänge schon. Es ist windig, um uns segeln die Bergdohlen elegant durch die Lüfte.
Ich schwitze, kaum wegen der Anstrengung, mehr von der Höhe. Bis zum Routenende scheue ich jeden Blick nach unten, sehe nur den Felsen vor mir, möchte nie hinter die Kante schauen. Die Höhenangst sitzt mir wie ein übler Spielverderber im Nacken.

Dann endlich bin ich oben. Es ist schön, auf dem Gipfel mit einem Kuss willkommen geheissen zu werden. Die Angst vor der Höhe habe ich einmal mehr bezwungen, meinen eigenen Sieg erkoren. Ich wage sogar einen Blick in die Weite und schaue nach unten über Felsbrocken und auf Haken, die in der Nachmittagssonne glitzern. Über den Gross Chälen steigen wir ab. Wir kommen wieder. Nicht weil es hier noch andere Klassiker zum klettern gibt. Wir kommen wieder, weil wir ein gutes Team sind.