Klettern ist manchmal mehr, als einen Felsen erklimmen. Es gibt Routen, mit denen einen Geschichten verbinden, glückliche und tragische.



Eigentlich ist es viel zu heiss zum Klettern, die Kalkwand des Corno steht im prallen Sonnenlicht, die Griffe brennen unter den Fingern. Doch ich muss diese Route anpacken, sie ist ein Prüfstein und sie ist Geschichte. Meine Geschichte. Ihr Name: «Ten». Klingt nicht spektakulär. Und für die meisten, die sie klettern, ist sie einfach eine schöne 6a+, drei Sterne, steil, doch gut griffige Löcher, Finalekalk eben. Ich weiss doch, der Überhang zu Beginn sieht schwieriger aus, als er ist, nach einem weiten Zug folgt ein gutes Loch für zwei Finger, und dann gehts beherzt weiter. Nur nicht zögern, trotz Hitze. Denn da ist eine Kraft in mir, die mich treibt: ich muss. Ein innerer Zwang beinahe. Für mich ist die «Ten» keine gewöhnliche Route, sie steht für eine Wende in meinem Kletterleben.
Einst versucht und gescheitert, vor langer Zeit. Die Freunde, die mich sicherten, schafften sie auch nicht, holten doch wenigstens das Material wieder herunter. In der Erinnerung, die bekanntlich vieles verfälscht, belächelten sie mich ein bisschen schadenfroh. Ich hatte ein rotes Stirnband aufgesetzt, hatte mich hochgerauft bis über den Überhang, wo eine Querung nach links folgt, zu dem grossen Loch, in das ich mich jetzt hänge, mit beiden Händen, und dann mit ein Schwung die Füsse ins Loch setze, und dann folgen gute Wassertropfengriffe und kleine Tritte. Kletterei vom Feinsten. Ja, hätte ich das gewusst, damals. Doch ich wagte den Zug nicht, trotz dem Stirnband, das mir Kraft verleihen sollte. Mentale Stärke wenigstens, aber das genügt nicht immer. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass damals noch nicht so solid eingeklebte Ringhaken steckten, sondern nur rostiges Material, und drüben beim Loch hing eine dünne Sanduhrschlinge. So erinnere ich mich jedenfalls, ich gab auf und die Kerbe sass tief. Jahrelang ging mir die Route nicht aus dem Kopf, die Schmach und der Ärger über meine Freunde, die das damals ganz anders erlebten. Sie behaupteten später, sie hätten mich nicht belächelt, im Gegenteil, sie hätten mich bewundert. Nichts half, ich litt. Und träumte von der «Ten».
Dann kam jener Tag, die Sonne stand schon tief über dem Meer und ein italienischer Kletterer liess mir gar den Vortritt, ich seilte mich an, und ich wusste: jetzt schaffe ich die Route und ich schaffe sie locker on-sight. Mit demselben Glücksgefühl wie am heutigen Hitzetag hängte ich mich in die Umlenkung und sah hinab, zum Buschwald am Fuss der Rocca di Corno, durchs Tal von Calvisio hinaus nach Finale Pia zum Meer. Ein Windhauch kühlt heute mein verschwitztes Gesicht. Das Glück ist kurz, ich weiss.
Meine Geschichte mit der «Ten» hat nicht nur mit Klettern zu tun, sondern viel mehr noch mit der Beziehung zu meinen Freunden. Mein Leiden hatte tieferen Grund. Im Verlauf meines langen Kletterlebens bin ich oft gescheitert, und es hat mir doch nie so zu schaffen gemacht. Die «Ten» wurde zum Wendepunkt in verschiedener Hinsicht. Und zum immerwährenden Prüfstein. Und so komme ich immer wieder, nicht nur zum Klettern, auch zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Für heute ist meine kleine Welt wieder in Ordnung. Doch eine Route ist ja nie das Ende – oder fast nie.
Neben der «Ten» führt die schöne Route mit dem beängstigenden Namen «Proiettile umano» empor, die wir auch noch klettern, trotz Backofenhitze und kleinen Griffen, auch sie gehört zu den vielen Geschichten des Lebens. Am Einstieg erinnert eine Tafel an einen jungen Kletterer, der hier zu Tode stürzte:
Dirk Voigt, 8.3.1971–16.2.1995
Das Leben ist die Fülle, nicht die Zeit.
Unser Freund Marcel war dabei, als es geschah, er erzählte von der chaotischen Rettungsaktion, vom Tod des jungen Menschen, nachdem er so glücklich die Umlenkung eingehängt hatte nach seiner ersten 6b on-sight. Ein Jubelschrei vielleicht, dann offenbar ein Sicherungsfehler seines Partners oder ein Missverständnis. Ich denke an diesem Ort immer an Marcel, den lieben Marcel, der auch auf einer Kletterroute starb, mitten in einer Seillänge an Lungenembolie.
Und so wird es Zeit, den Berg hinter uns zu lassen, die schöne Roccha di Corno, und hinab zum Strand, zu Glacé, Kaffee und Bier. Dann ein Bad im klaren Meer, ein Nickerchen im warmen Sand, ein Buch lesen, träumen, leben.