Rückzug

Gämsen haben es leichter. Sie können nicht scheitern wie wir Vernunftmenschen ohne Vernunft.

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Der Berg empfängt uns gnadenlos. Auf steilen schuttbedeckten Platten suchen wir den Einstieg zur Route, als wir über uns ein eigenartig schwirrendes Geräusch vernehmen, und im gleichen Augenblick kracht ein Felsbrocken auf die Stelle, wo wir eben noch standen, nach dreihundert Meter freiem Fall. Ein erster Schock, nachdem alles so gut begonnen hat, das Wetter bestens, die Route ein bekannter Extremklassiker, der Freund ein starker Kletterer, der furchtlos schweren Fels führt. Den zweistündigen Zustieg mit schwerem Gepäck über steile Gras- und Felsstufen habe ich geschafft. Nun zittere ich vor Angst und möchte mich verkriechen, aber wohin in dieser haltlosen Schutt- und Felswüste.
Wir sind irritiert, der Einstieg unauffindbar, das Routentopo unklar, irgendwo steckt ein Haken. Wir rüsten uns aus, zwei Gämsen beobachten uns dabei mit Interesse, ein Muttertier und ein Junges. Ruhig kommen sie näher, so locker und furchtlos tänzeln sie über die Steilstufen, wie wir uns das nur wünschen könnten. Und es ist, als ob die Mutter dem Jungen vorführen möchte, was sich da für seltsame ungelenke Wesen in ihre Welt vorwagen. Vor denen brauchst du keine Angst zu haben, die sind so plump und langsam, aber böse sind sie nicht und manchmal lassen sie gar etwas liegen, ein Zustupf zum zähen Gras, das in diesen Hängen wächst.
Wir klettern irgendwo hoch, Haken, schwere Kletterzüge, Platten und Wasserrillen und ein Grasband, das wir nach links verfolgen. Das Routentopo genügt eher künstlerischen Ansprüchen als dem Wunsch nach Information in der gegliederten Wand, die sich viele hundert Meter über uns aufbaut, grau, gelb, überhängend. Am Ende des Bandes markieren Sanduhrschlingen einen Routeneinstieg und ein feiner Schriftzug zeigt, dass wir richtig sind. Unsere zwei Gämsen sind auch schon da, trippeln um uns herum und beobachten, wie sich der erste der Menschen über eine graue glatte Felsplatte hocharbeitet, die nun selbst den grossen Kletterkünstlern unter den Tieren nicht mehr zugänglich ist. Wozu denn auch? Da oben gibts nichts, was dem Leben dient, nur graues und gelbes Gestein und da und dort ein schwarzer Wasserstreifen.
Und irgendwann ist dann auch für die zwei Menschen der Weg zu Ende oder die Weisheit. Zwei glänzende Bohrhaken im Nichts und dann nichts mehr, so scheint es, ah, noch einer, höher oben, eine abdrängende Stufe und Ende. Die Route verfehlt, was soll der nagelneue Stand hier? Vielleicht hat sich ein Fotograf eingerichtet oder ein Filmemacher, denn die spektakuläre Route diente gelegentlichem Shooting für Shootingstars der Szene und Reklame für Sportartikelhersteller und Sponsoren. Das Routentopo ist hier so nützlich, als wäre es in chinesischer Bilderschrift verfasst.
Und irgendwann sitzen die zwei Menschen wieder dort, wo man sich zuerst begegnet ist. Die Gämsen sind auch wieder da, nun auch mit Papa, der sich noch ein bisschen näher wagt, aber den hingeworfenen Käse verschmäht. Er läppelt Wasser aus einem kleinen Becken, wie die Menschen zuvor. Die Mutter mit dem Jungen schaut von weit oben herab zu, und man meint, ein leises Lachen zu vernehmen. Beruhigt euch, ist doch halb so schlimm, was wollt ihr auch dort oben!
Da sitzen wir also melancholisch in der Sonne und der starke Freund sagt einmal: «Noch nie musste ich bisher umkehren.»
Und ich sage: «Ich schon oft.»
Aber es tröstet wenig. Früher pflegte man einen Rückzug zum Erfolg umzudeuten, man wies sich damit als vernünftiger Bergsteiger aus – was man ja eigentlich nicht war. Aber irgend einen Sinn musste der Rückzug doch haben, allerdings war ja schon der Sinn des Aufstiegs in verrückten Routen fragwürdig bis sinnlos.
Nun sitzen wir also da, essen ein bisschen und reiben Sonnencreme ein und fotografieren die Gämsen und blicken in den Abgrund, die furchterregend abschüssigen Abhänge, die wir nun wieder mit prallen Rucksäcken aber ohne das Hochgefühl des Erfolgs hinuntersteigen müssen, vorsichtig Fuss vor Fuss, um wenigstens heil unten anzukommen. Das ist ja auch ein Ziel.

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