Der Südgrat des Salbitschijen sei die schönste und bekannteste Gratkletterei im Granit, steht in einem Kletterführer. Ein wehmütiges Wiedersehen nach fünfzig Jahren.
Salbit Süd war Kult und ist es auch heute noch. Es ist eine internationales Kollektiv von Kletterern, das sich an diesem wolkenlosen Tag auf dem tadellosen Granit tummelt, der so hart ist, dass er auch nach hunderttausend Seilschaften noch kaum abgewetzt oder speckig wirkt. Wo die Griffe sind, sind die Flechten weg, der Fels sauber wie eine Skulptur von Roger Moore. Tritte gibt’s eher weniger, die Technik heisst Piazzen oder Dülfern, also zupacken, Füsse auf die glatte Wand setzen und weg. Als Kalkklettergarten-Dummie, der man geworden ist, fällt einem ein 5b schon schwer, jedenfalls braucht es Kraft und wahrscheinlich andere Muskeln als etwa die Routen auf der Galerie Amden oder Finale. Ach, der Zustieg schon ein Krampf, Schmelzwasser rinnt durch die steile Rinne herab, die auf den Gratrücken führt! Und dann zwei Deutsche, die nur langsam vorankommen. Der französische Bergführer schon weit vorn am Hauptaufschwung mit seinen zwei Gästen, er hat schon in der Hütte gehetzt. Mein Kollege sah ihn sein Frühstücksbrot auf der Toilette vertilgen, gleichzeitig mit dem Rest des Geschäfts. So spart man Zeit und ist zuerst am Grat. Hinter einem die Ameisen.
So war das ja schon vor fünfzig Jahren, als ich zum ersten mal den Salbit Süd kletterte, war damals schon Kult. Ich hatte eben meine ersten richtigen Bergschuhe gekauft, schöne schwere Lederarbeit von Raichle mit Vibramsohlen. «Anden Expedition» hiessen sie, entwickelt für die berühmte Schweizer Expedition in die peruanischen Anden von 1959. Allein schon der Name verlieh Kräfte – wie wäre ich sonst hier hochgekommen, damals. Eigentlich kann ich mir das gar nicht mehr vorstellen, versuche mich während des Kletterns zu erinnern, aber die Bilder sind weg. Ich glaube, ich stieg wenig vor oder gar nichts, mein Freund war stärker und vor allem mutiger. Aber auch im Nachstieg muss man sich festhalten.
Abseilen vom Salbitzahn in die Scharte. Die Heidelberger, nette Burschen übrigens, haben wir hinter uns gelassen, doch da drängen sich zwei Holländer von einem andern Einstieg vor, und bald hockt uns ein Österreicher mit zwei Kumpels am Seil auf den Fersen. Die Tour wird zum sozialen Ereignis, Smalltalk am Stand. Der Österreicher kritisiert mein Sicherungsgerät, damit wäre laut dem Sicherungsexperten Pit Schubert kein Sturz zu halten, belehrt er mich. Ich reagiere etwas beleidigt, aber er hat ja wohl recht. Später unterhalten wir uns dann doch ganz nett über die Kulturstadt Graz, woher er stammt, und den steirischen Herbst. Allen, auch den Holländern, erzähle ich von meinem «Jubiläum», «auf den Tag», behaupte ich, fünfzig Jahre seit meinem ersten Aufstieg. So genau nehme ich es ja nicht, ich habe das Datum vergessen und nirgends notiert.
Eigentlich heisst es oft, ich sei ein bescheidener Mensch, aber das stimmt wohl nicht. Schon am Abend in der Hütte führte ich das grosse Wort, erzählte Geschichten von einst und jetzt. Berufskrankheit wohl, als Schriftsteller muss man sich heutzutage unablässig selber ins Gespräch bringen, sonst wird man vergessen. Oder dann ist es die Schwatzhaftigkeit des Alters, die mich bei andern so ärgert und die man an sich selber wohl nicht bemerkt.
«Da hat sich wohl viel verändert in fünfzig Jahren», meint der Grazer, der übrigens ein guter Kletterer ist und ziemlich angefressen, 1500 Touren habe er hinter sich, sagt er, also auch nicht so bescheiden. Ja, ja, viel hat sich verändert. Viele neue Bohrhaken, das wurde ja auch schon heftig kritisiert. Hans Berger, der Hüttenwart, habe das Gebiet verbohrt, um Kletterer in die Hütte zu locken, die nur noch von Bohrhaken zu Bohrhaken denken können. Granit war ja auch etwas aus der Mode gekommen unter Sportkletterern. Wie immer bin ich auch hier froh um die neuen und auch die noch vorhandenen alten Haken da und dort.
Die Schlüsselstelle hätten Alfred und Otto Amstad und Guido Masetto 1935 mit einem einzigen Haken gemeistert, glaube ich mich zu erinnern. Heute stecken wohl fünf oder sechs oder noch mehr. Die Erstbegehung wurde damals mit einer grossen Reportage im «Sport» geehrt. Die Dreierseilschaft war Legende, hat noch weitere Klassiker in den Urneralpen erstbegangen, Schneestock Ostgrat, Seewenstock Südgrat, Krönten Süd. Legendär in der Kletterszene waren später auch Guido Masettos drei Töchter wegen ihrer ausserordentlichen Schönheit. Eine oder zwei sah ich mal kurz, als ich Masetto in einer Villa am Zürichberg besuchen durfte für ein Interview. Er war nach Brasilien ausgewandert und im Kaffeehandel tätig, offenbar ein ganz lukratives Geschäft.
Ach, die alten Geschichten. Schau doch lieber die Gegend an, denke ich, die spektakulären Türme des Westgrates, aber auch da: Geschichten, Geschichten. Gut, sind wir bald oben. Beim Abseilen vom Zwillingsturm verklemmt das Seil, die braven Österreicher helfen uns aus der Patsche. Sie erklimmen dann auch die Gipfelnadel, auf die wir gern verzichten. Ich hab ja schon eine Foto, wie ich da oben stehe. Damals war der Gipfel übrigens die reinste Müllhalde, Büchsen, Flaschen und sonstiger Gerümpel lagen herum. Irgendwann gab es eine Putzaktion, wie später ja auch am Everest und andern vermüllten Bergen.
Der Abstieg ist verschneit, heikel und viel länger als einst, da der kleine Gletscher seither 40 Meter abgeschmolzen ist und eine senkrechte Wandstufe freigelegt hat. Im Zickzack gehts blauen Markierungen nach, es gibt Ketten und Drahtseile zum Einhängen. Ich bin froh darüber, denke während des ganzen Abstiegs an Alfred Weber, ein hervorragender Kletterer, der hier vor zwei Jahren zu Tode stürzte. So holt mich doch wieder die alte Wehmut ein, trotz all dem Glück, das mich beseelt, dass ich eine so schöne Route nochmals klettern durfte und konnte, nach einem halben Jahrhundert.
Sehr geehrter Herr Zopfi,
Ihren Aufsatz vom Klettern über den Salbit-Südgrat nach 50 Jahren habe ich mit sehr grossem Vergnügen gelesen. Den Salbit-Südgrat bin ich vor etwa 15 Jahren geklettert, als Zweiter der Seilschaft, damals Mitte Fünfzig. Wir waren allein in der Route, da es am Morgen geregnet hatte, waren erst um etwa 11 Uhr am Einstieg und um 17 Uhr am Gipfel. Ich vermute, dass ich heute der Länge der Tour nicht mehr gewachsen wäre, da in den letzten Jahren meine Ausdauer sehr nachgelassen hat.
Die Bemerkung, „Hans Berger, der Hüttenwart, habe das Gebiet verbohrt, um Kletterer in die Hütte zu locken, die nur noch von Bohrhaken zu Bohrhaken denken können“, veranlasst mich zu meinem Kommentar. Vielleicht zitieren Sie hier den „hervorragenden Kletterer aus Graz“. Hans Berger und andere haben einige Routen, die in die plaisir-Kletterführer von Känel aufgenommen wurden, mit gebohrten Standplätzen und wohl ausreichend mit Zwischenhaken ausgerüstet. Nach dem, was ich lese und auch in wenigen Fällen selbst sah, sind zahlreiche andere, schwerere Routen in dem Gebiet eher knapp mit Bohrhaken (bis auf die Standplätze) versehen und verlangen selbst angebrachte Zwischensicherungen, wenn man sie haben will. Daher ist die Aussage, Hans Berger habe das Gebiet verbohrt, falsch. Man darf natürlich grundsätzlich gegen das Konzept des plaisir-Kletterns sein. Aber dann braucht man auch nicht in eine der meist-begangenen und als plaisir-Route bezeichnete Klettereien der leichteren Art im Salbit-Gebiet einzusteigen.
In meiner Jugendzeit bis Anfang Zwanzig bin ich mit steigeisenfesten Bergschuhen im Schwierigkeitsgrad IV (heute manchmal mit 5 bewertet) geklettert, ohne vernünftige Standplätze, ohne jede Zwischensicherung, ohne Klettergurt. Die Wegfindung war schwierig, stürzen durfte man nicht. Ich bin froh, dass ich dieses Klettern überlebt habe. Das plaisir-Klettern, das ich mit 50 kennenlernen durfte, war für mich beglückend: keine Angst beim Klettern zu haben! Ich meine ernstlich, dass das Klettern Freude und keine Angst bereiten soll. Es gibt bessere und schlechtere Kletterer, risikobereite und vorsichtigere. Man sollte alle gewähren und in die Alpen lassen. Die besseren Kletterer dürfen sich gerne besser und überlegen fühlen, aber den anderen auch ihre Freude, die nicht geringer ist, gönnen.
Mit herzlichem Gruss, Ihr Wolfgang Müller
Lieber Herr Müller
Besten Dank für Ihren Kommentar. Es freut mich, dass Sie unsern Blog lesen und auch kommentieren. Das wertet die Seite auf. Wegen der «Verbohrung» des Salbit zitiere ich Leute aus der Kletterszene, ich selber bin da etwas im Zwiespalt. Den Südgrat fand ich eigentlich korrekt eingebohrt, auch die schwerere Route «Licht und Schatten», die ich vor zwei Jahren kletterte. Ich kenne ja fast alle alten Routen am Salbit sozusagen im «Urzustand», auch Westgrat und Villigerpfeiler, mit Holzkeilen, Rosthaken ect. Geklettert alles mit Bergschuhen und ohne modernes Material in den Sechzigerjahren. Als Alter Herr schätze ich die heutige Plaisiersicherung und das weniger angstbelastete Klettern auch und hänge jeden Haken ein. Aus Klettergebieten in England und den USA, wo strikte Regeln herrschen, weiss ich aber auch, dass man im Grunde alles auch mit viel weniger fix eingebohrtem Material sicher klettern könnte – wenn man könnte. In unseren Gegenden lernt man das halt einfach nicht mehr so, man hat wenig Übung im Legen von Keilen und Friends. Da Sie aus Darmstadt schreiben, nehme ich an, dass Sie auch den Battert bei Baden Baden kennen. Dort ist die Absicherung ja gelegentlich auch etwas karg und bedarf Zwischensicherung. Die Leute dort sagten mir, es sei ein gutes Training fürs Gebirge.
Herzliche Grüsse
Emil Zopfi