Schartenfluh

Nomen est omen. Da gilt es noch Scharten auszuwetzen: drei Stürze an einem Fels! Vielleicht sollte man Träumen mehr Beachtung schenken.

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Der Traum hatte etwas Unheimliches. Wir fuhren zum Klettern, zuerst mit dem Wagen durch reissendes Wasser, dann zu Fuss auf staubigem Weg. Da stürzte uns ein Mann entgegen, ein blutendes Kind im Arm, das im Klettergarten abgestürzt war.
So hatte der Tag begonnen. Schartenfluh, Jura, mit guten Freunden, eiskalt die Felsen im Schatten, später dann warm, zu warm in der Sonne. Die Finger schweissig, die Griffe glitschig. Ich erinnerte mich an den Traum, als ich im Seil hing und mein linker Mittelfinger blutete, so heftig, dass ich nicht mehr weiterklettern konnte. Ich hätte die letzten Meter der Route verschmiert und wäre vielleicht wieder abgerutscht mit dem blutigen Finger.
Ach ja, der Jurafels. Auch wenn die Griffe gut sind, es fehlen stets die Tritte, oder ich weiss nicht, wie man auf diese abschüssigen Mikroabsätzchen stehen soll. Es ist wohl eine Sache der Übung, die Locals können das sicher perfekt. Mir jedenfalls rutschten ständig die Füsse weg, Finger in scharfen Löchern am Schartenfluh, der Name klingt ja schon nach scharfen Kanten. Die Verletzung gering, doch der alte Mann nimmt Aspirin, vom Arzt verordnet, und das verdünnt das Blut. Eigentlich sollte man in diesem Zustand wohl gar nicht mehr klettern.
«Geh doch nach Moskau», heisst die Route. Ist das eine Aufforderung, lieber mal bei Hotelplan eine Russlandreise zu buchen, statt in den Felsen rumzuhängen? Meine Altersgenossen erzählen ja ständig von ihren Kreuzfahrten und Namibiaferien und Nepaltrekkings. Und ich komm dann mit Finale und Jura und Brüggler und ernte nur Kopfschütteln. Also wirklich mal nach Moskau, statt an den Schartenfels?
Beim Wort «Genossen» wird mir allerdings die politische Bedeutung des Routennamens bewusst: Moskau einfach. Das wünschte man doch einst allen Genossen und Linken bis weit in die SP hinein. Also auch mir. Es ist nicht das erste Mal, dass mir im Jura politisch unterlegte Routen begegnen. Und dass ich auf dieser nicht zum Ziel, d.h. nicht nach Moskau gelange, hat vielleicht auch Bedeutung. Der Kletterführer heisst ja auch «Fluebible», vielleicht in Anlehnung an die «Flueziitig» der anarchistischen jurassischen Kletterfreaks der Achtzigerbewegung.
Aber ich suche wohl wiedermal zu weit, Träume, Politik, Anarchie, was solls? Es ist heiss, man lässt mich ab am Seil, ich verpflastere meinen Finger, bewundere eine junge Kletterin, die locker eine schwere Route anpackt … oh … jetzt hängt sie auch im Seil … blutet wenigstens nicht. Ja, und dann sind auch die guten Freunde müde und wir steigen hinauf in die Gartenwirtschaft oben am Fels und werden von einer attraktiven Kellnerin bedient, die einen östlichen Akzent redet. Vielleicht aus Moskau? Ich muss wohl wieder mal zurückkehren zur Schartenfluh und «Geh doch nach Moskau» zu Ende klettern.

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