Manchmal braucht es etwas Nachschub, um auf einen Berg zu kraxeln. Zum Beispiel bei Nebel und Neuschnee. Man tut sich das ja nicht nur wegen der Aussicht an. Die gab’s ohnehin nicht.
Es hat gescheit in der Höhe, Nebel schleichen um die Felswände des Rätikon, in der Hütte ist’s warm. Doch die zwei Holländerinnen rüsten sich aus, Sturmjacken, Gamaschen, Regenschutz über dicken Rucksäcken. Vier oder fünf Stunden ist’s zur Schesaplanahütte. Auch den Herrn aus dem Ruhrgebiet, mit seiner Tochter unterwegs, verabschiedet sich. Auch sie bestens gerüstet fürs Gebirg. Die zwei jungen Deutschen aus Westfahlen, auf einer Hüttentour unterwegs, wollen auf die Sulzfluh, dann zur Tilisunahütte. Schnee hat’s dort oben. Na ja, man wird sehen. Nur der grosse Bergsteiger, der am Abend zuvor mit seinen Heldentaten geprahlt hat, zögert. Die Sulzfluh, ach ja, da war man doch schon öfters. Die Wand hoch natürlich. Und so weiter.
So etwas wie Ehrgeiz gibt’s in den Bergen nicht, das könnte ja tödlich sein und ist gegen die herrschende Alpenethik. Selbst Ueli Steck geht ja nur für sich selber und aus goldlauterer Freude z’Berg, wie er sagt. Jedenfalls packt nun auch der Altalpinist seinen Rucksack, bindet die Bergschuhe und zieht los. Den rotweissen Markierungen nach, die zum Glück dicht genug aus dem Nebel auftauchen.
Im Gemstobel hockt ein Steinbock auf einer Kanzel, dreht träg den Kopf. Schön streng das, mit so einem Gehörn. In einer Senke tummeln sich die Geissen mit den Jungen. Alle zehn Jahre darfst du einen Bock schiessen, hat vor zwei Tagen eine Jägerin erklärt. Und zuerst eine Geiss. So und so schwer etcetera. Die Regeln der Jagd sind kompliziert, stelle ich fest, die Prüfungen hart. Eigentlich müsste dieses Felsenkar Steinbocktobel heissen, aber vielleicht gibt es ja auch gelegentlich Gemsen. Oder Gämsen nach neuer Rechtschreibung. Kein Witz übrigens: In Zürich gab’s eine Gemsenstrasse. Heisst heute Gämsenstrasse. Also Gämstobel. Oder Steintobel. Denn steinig geht’s hoch und bald auch schon durch etwas Schnee. Ein bisschen Atem schöpfen, man ist ja nicht mehr der Jüngste und hat die beiden Flachländer natürlich längst überholt. Grund siehe oben unter Stichwort «Ueli Steck».
Wie fast überall in den Bergen tauchen auch hier Erinnerungen auf wie die Flammenschrift an der Wand im alten Testament. Mit F. aus Teheran wanderten wir mal hier hoch, halb oben liessen wir sie zurück. Da sass sie im Nebel und ängstigte sich. War ja keine Bergsteigerin, jobbte im Coop-Lagerhaus in der Herdern und endete als Senior Economist bei der Weltbank.
Der Aufstieg zieht sich dahin, Zickzack und Gedankensprünge, als sei das Gehirn ein Steinbock. Jetzt hinterlasse ich schon Spuren im Schnee und Spuren auch im Gipfelbuch am Riesenkreuz, das endlich aus dem Nebel ragt. Aussicht Null. Ein Selfie will mir nicht gelingen mit den kalten Händen. Etwas Brot und einen Apfel verzehre ich im Abstieg bei einem Felsblock, wo es nicht mehr so bläst. Weiter unten, schon fast bei den Steinböcken und -geissen treffe ich auf die mutigen Deutschen.
«Warst du schon oben?»
Der Veteran nickt, ein bisschen stolz wohl.
«Krass!»
Weiter unten dann die Sonne. Und ein Kaffee im «Alpenrösli».