Vielleicht ist der Titel dieses Buches über die Geschichte des Extremskifahrens auch leicht ironisch gemeint. Das Abfahren im stiebenden Pulverschnee über die steilsten Hänge der Alpen hat sicher etwas Himmlisches für jene, die es beherrschen – und so lange gute Verhältnisse herrschen. Aber wie immer im Gebirge liegt das Himmlische auch nah am Himmel.
„Am 18. Juni 1917 brachen wir von der Festihütte aus auf. Das Wetter war ausgezeichnet, und wir zogen unsere Spuren ohne Zwischenfall über den Festigrat und dann die riesige Westwand unseres Berges hinauf. Vom oberen Sattel weg, etwa siebzig Meter unterhalb des Gipfels, wird der Hang plötzlich sehr steil; stellenweise erreicht er fünfundvierzig Grad, das heißt die äußerste Steile, auf der Schnee noch liegen bleibt. An jedem andern Gipfel hätten wir die Ski abgeschnallt und wären zu Fuß weitergegangen; aber wir hatten es uns nun einmal in den Kopf gesetzt, eine Skispur bis zum höchsten Punkte des ‚Daches der Schweiz‘ zu legen, und wir überlegten uns hin und her, ob das wohl ohne allzu große Gefahr möglich wäre. Bei Hartschnee wäre der Hang viel zu steil gewesen. Bei weichem Pulverschnee hätten wir die Lawinengefahr nicht verantworten können. Aber glücklicherweise war der Schnee geradezu ideal für unsere Absichten: Wir fanden ‚gesetzten Pulverschnee‘ vor, das heißt Pulverschnee, dessen einzelne Flocken oder Körner durch den Winddruck einigermaßen miteinander verbunden waren. Unsere Ski sanken nicht zu tief ein und die Schneedecke zeigte keine Tendenz zu rutschen. Und um halb zwölf Uhr hatten wir eine Skispur durch den höchsten Schneehang der Schweiz gelegt.“
In der Geschichte des Skialpinismus ist der 18. Juni 1917 ein wichtiger Tag: Der Engländer Arnold Lunn und der Bergführer Josef Knubel aus St. Niklaus steigen mit Ski auf den Dom (4545 m), den höchsten ganz in der Schweiz liegenden Gipfel. Und fahren von dort oben auch wieder ab. Im Buch „The Mountains of Youth” von 1925 beschreibt Lunn diese Frühlingsfahrt mit Ski; die deutsche Ausgabe „Die Berge meiner Jugend“ erschien 1940, übersetzt von Henry Hoek und verlegt von Walter Amstutz – beide ebenfalls ganz grosse Pioniere des Skibergsteigens.
Ob vor der Abfahrt über den 45 Grad steilen Gipfelhang des Doms gleich stotzige Hänge mit Ski befahren wurden, ist gut möglich; irgendwo an einem Übungshang, aber sicher noch nie so hoch oben und auf einer Skitour. Ein Riesenunterschied: Ich bin auch schon zweimal über den Zielhang am Chuenisbärgli runtergerutscht, aber noch nie runtergekurvt, geschweige denn von Tor zu Tor. Heute fand er übrigens wieder statt, der Weltcup-Riesenslalom an diesem berühmten Skiberg. Es gewann der Amerikaner Ted Ligety vor den Deutschen Fritz Dopfer und Felix Neureuther; der Österreicher Marcel Hirscher hätte gewonnen, wäre er im Zielhang nicht gestürzt und fast ausgeschieden.
Stürzen verboten: Das gilt nicht nur im Zielhang des Chuenisbärgli und im Gipfelhang des Dom, sondern in vielen weissen Hängen ab einer gewissen Neigung. Ab 35 Grad, wenn der Hang vereist ist und unten abbricht. 45 Grad mit gut gesetztem Pulver hingegen, das geht, da hätte ein Sturz wohl keine fatalen Folgen. Die Franzosen nennen das Terrain zwischen 40 und 50 Grad ski de pente raide; ab 50° wird’s extrem, und bei dieser Steilheit dürfte dann jeder Sturz der letzte sein.
Dominque Potard, Bergführer und Bergbuchautor in Chamonix, hat eine Geschichte des Ski extrême geschrieben: „Skieurs du ciel“ heisst das reich illustrierte Buch. Es startet mit den Vorfahrern von Lunn und Knubel, schwingt über die skieurs de pente raide wie Louis Lachenal und Maurice Lenoir, denen am 21. April 1946 die Erstbefahrung der 400 Meter hohen, 40 Grad steilen Südflanke des Col des Droites gelang, zu den richtigen Extremskifahrern wie Sylvain Saudan, Heini Holzer, Stefano di Benedetti, Daniel Chauchefoin und Jean-Marc Boivin. Berühmte Namen, um die man natürlich keine Bogen machen kann. Aber es fehlen in dieser Geschichte des Extremskilaufs viele (deutschsprachige) Namen wie Martin Burtscher, Kurt Jeschke, Hansruedi Abbühl, Kobi Reichen und Marcel Steurer. Dommage!
Trotzdem: Potard lässt grosse Momente des Skifahrens in steilsten Hänge Revue passieren. So den 16. Juni 1996, als sich Pierre Tardivel, einer der besten Extremskifahrer aller Zeiten, endlich seinen Traum erfüllen und über die 650 Meter hohe, durchschnittlich 54 Grad steile Nordwand der Aiguille de Triolet im Mont Blanc-Massiv abfahren wollte. Als er sich der Wand näherte, sah er, wie zwei schwarze Punkte über „seine“ Wand herab kurvten. Nicht auf Ski, sondern auf dem Snowboard. Jérôme Ruby und André-Pierre Rhem waren die beiden Schneesurfer, die Monsieur Ski extrême die Schau stahlen. Sie hatten für ihre Gleitgeräte das Motto angepasst, das Walter Amstutz an einer Gedenkfeier für Sir Arnold Lunn in London im Jahre 1979 gesetzt hatte: „Wo es Schnee hat, kann man immer skifahren.“
Dominique Potard: Skieurs du ciel. Une histoire du ski extrême. Éditions Guérin, Chamonix 2012, 56 Euro.
Diese Buch ist das ideale Geschenk für meinen Vater. Er ist in seinen jungen Jahren selber viele Touren mit Langlaufskiern gefahren und schwärmt immer noch davon. Ich bin froh auf Ihre Seite gestossen zu sein.
mfg Jan Ove