Sommerwanderungen und Winterfahrten

Literarische Spaziergänge haben gegenwärtig gerade wiedermal Konjunktur. In den Buchhandlungen stapeln sie sich, doch die leichtfüssigsten und witzigsten verstauben vielleicht schon seit Jahrzehnten oder noch länger in Antiquariaten. Unser Buchschnüffler hat sich wieder mal auf die roten Socken gemacht und mit Hilfe seiner Ehefrau ein paar Fundstücke nach Hause getragen. Man wundert sich, dass da noch Platz ist.

„Es wird zu viel gereist in der Schweiz und zu wenig spazieren gegangen. Unbegreiflich ist das keineswegs, im Gegenteil, sehr natürlich. Touristen, die sich nur wenige Wochen in einem Lande aufhalten können, das vom schwäbischen Meer bis zum Leman reicht und vom Engadin bis zum nach Frankreich hineinreichenden Jura so unendlich viel Abwechslung bietet, wollen möglichst von allem naschen. Aber genußvoller ist es doch, wenn man Jahr für Jahr nur ein bestimmt begrenztes, kleineres Gebiet sich zum Wanderziel setzt und in diesem Bezirk dann recht behaglich sich umsieht. Daß wir Landesbewohner es so machen, ist selbstverständlich und uns nicht als sonderliche Tugend anzurechnen; wir haben’s eben in dieser Beziehung bequem. Ich kann in Bern noch bis gegen elf Uhr vormittags meiner Berufsarbeit obliegen und nachmittags etwas nach vier Uhr bereits auf irgend einem einsamen Hügel hinter Mürren Alpenrosen pflücken.“

Und das ohne Fahrt mit dem eigenen Auto von Bern nach Stechelberg, sondern per Bahn – und mit dem Schiff von Thun nach Interlaken West, inklusive der aus vier Gängen bestehenden Table d’hôte zu Fr. 2.50; die Hälfte kostete die „tüchtige Portion Wiener Schnitzel“, mit welcher sich der Ausflügler vor über 100 Jahren begnügte. Sein Name: Joseph Victor Widmann. Geboren 1842 im tschechischen Brünn, aufgewachsen im Pfarrhaus von Liestal, Studium des evangelischen Theologie in Heidelberg und Jena, Direktor Einwohnermädchenschule in Bern, ab 1880 Feuilleton-Redaktor der Berner Tageszeitung „Der Bund“ (wo er Robert Walser zu ersten Veröffentlichungen verhalf), Schriftsteller, Italienkenner, unermüdlicher Wanderer und Spaziergänger. Widmann starb am 6. November 1911 in Bern, der Widmann-Brunnen plätschert seit 1914 am Südende des Hirschengrabens in Bern. Am Nordende überschaut Schultheiss und Feldherr Adrian I. von Bubenberg das Verkehrsgewühl unweit des Bahnhofs; im Sockel des Denkmals ist die an die Belagerung von Murten erinnernde Inschrift zu lesen: „So lange in uns eine Ader lebt, gibt keiner nach.“

Doch lassen wir Adrian die Stellung halten und kehren zu J.V. zurück; der ausgeschriebene Vorname findet sich kaum in seinen Publikationen. Die Überlegungen zum Spazieren, zum Reisen und zur günstigen Verkehrslage von Bern finden sich zu Beginn von „Zum obern Steinberg. Sonntagsspaziergang in den Berner Alpen“ im 1897 erschienenen Buch „Sommerwanderungen und Winterfahrten“ mit insgesamt elf Berichten. Meine Frau Eva fand das Buch am Ostersamstag in Brockenhaus Brocktopus in Gals am Fusse des Jolimont im Seeland, zusammen mit diesen beiden Büchern: „Aus den Schweizer Bergen. Drei Geschichten für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben“ von Johanna Spyri (zweite Auflage von 1890, mit folgender Widmung: „Ihrer lieben Cousine Olga Körber zur Confirmation. Palmsonntag 1910. Alice Weiss“); „In die Umgebung von Bern! Vorschläge zu lohnenden Ausflügen von Bern aus“ (dritte Auflage von 1921, der städtische Verkehrsverein gab den Führer erstmals 1913 heraus).

Die drei Bücher sind hübsche Ergänzungen für meine Büchersammlung. Und wunderbar lesbar, jedenfalls Joseph Victor Widmann. Sein Stil: leicht ironisch, leicht lehrerhaft, aber immer leichtfüssig. So wie er auch unterwegs war: aufmerksam und neugierig im besten Sinne. Ein Beispiel von der Aprilreise nach Savoyen, notiert auf der Bahnfahrt von Bern nach Lausanne:

„Es fahren mehr gute Novellen in der Welt spazieren, als geschrieben werden, und die besten wahrscheinlich dritter Klasse. Ich hatte ein Pärchen gegenüber, junge Eheleute, die von der Hochzeitsreise zurückkehrten, er ein prächtiger, stattlicher Bursche, sie ein blondes, engbrüstiges Rempelchen von nicht mehr erster Frische. Aber er ging mit dem jungen Frauchen doch recht behutsam und gewissermaßen respektvoll um, während sie bei aller Zärtlichkeit und schmachtenden Hingabe ein wenig die Herrin zu spielen suchte. Und das war sie wohl auch ursprünglich gewesen. Je länger ich die beiden mir ansah, die rauh zerarbeiteten, kolossalen Hände des jungen Mannes und dazu die Haltung der jungen Frau beobachtete, desto klarer ward mir, daß die begüterte Bauerntochter den schönen Knecht geheiratet hatte.“

Joseph Victor Widmann: Sommerwanderungen und Winterfahrten. Huber Verlag, Frauenfeld 1887. Bei www.zvab.com erhältlich. Und so: https://dlib.stanford.edu:6521/text1/dd-ill/sommer-winter.pdf; einfacher via Werke-Liste von Widmann in seinem Wikipedia-Eintrag.

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