Sonntagsweg

Klettern hilft manchmal auch gegen Alpträume, selbst im «grauen Föhn» und auf einer Route, die schon fast Ersatz ist für die zu teure Kletterhalle.

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Es war wieder einmal eine jener Nächte, in denen die Welt einstürzt. So gegen drei Uhr liege ich wach, im Kopf beginnen die kleinen und grossen Probleme der Zeit und des Lebens zu wachsen. Hügel werden zu Gebirgen, Spazierwege zur Eigernordwand. Es ist die Stunde, in der sich die Proportionen verzerren, ein vergessenes Komma wird zum Alptraum. Schlaflos liege ich und leide. Es heisst, man sollte aufstehen, ein Buch zur Hand nehmen oder einen Tee aufsetzen, jedenfalls mal schnell aufs Klo. Nützt alles nichts. Ein Freund empfiehlt Schlaftabletten, aber man will ja nicht süchtig werden. Ich versuche es mit «geistigem Klettern», stelle mir eine Route vor, die ich gut kenne, lasse sie Griff um Tritt vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen und oft schlafe ich nach dem dritten oder vierten Haken ein. Es ist eine Art autogenes Training und soll sogar die Muskeln miteinbeziehen und stärken. Heute klappts nicht. Oder dann doch irgendwann, denn als der Wecker piepst, schrecke ich hoch. Dicker Nebel draussen, in den Alpen solls schön sein, Föhn.
Also los, schlaftrunken noch und ohne jede Begeisterung. Sie hält sich auch später in Grenzen, denn es herrscht das, was wir den «grauen Föhn» nennen, der Himmel ist überzogen und der «älteste Glarner» bläst heftig und kalt. Die Route am Brüggler nennt sich «Sonntagsweg», Sonnenweg wär’ uns lieber. Wir klettern im Faserpelz, darunter zwei Schichten, und gelegentlich fällt doch ein Sonnenstrahl auf uns Sonntagskinder. Und der «Weg» ist ja nicht sehr anspruchsvoll, ein Täfelchen weist den Einstieg, damit wir uns nicht etwa auf den «Blüemliweg» gleich links oder «Freitag der 13.» rechts verirren.
Dann alle paar Meter ein solider Bohrhaken und eine orange Markierung; wären auch die Griffe farbig markiert, würde man sich fast in einer Kletterhalle fühlen. Diese Wand ist ein guter Ersatz für die Kletterhalle, die inzwischen unerschwinglich geworden ist. Früher wars umgekehrt, die Halle Ersatz für die Wand.
Heute sind wir ganz froh, nicht zuviel denken und suchen zu müssen, der «Weg» windet sich geschickt auf steilen Platten zwischen Grasbüscheln und glatten Rissen durch und bietet ein paar schöne Kletterstellen. Und am Ende wieder einmal ein Gipfelerlebnis mit Blick ins Tiefland, wo der Novembernebel schwer über den Niederungen liegt. Die Alpträume sind sich inzwischen verflogen, die Alp ist wieder Alp, die Welt ist was sie ist und das vergessene Komma bleibt vergessen. Vielleicht kann ich die kommende Nacht sogar schlafen, und sonst klettere ich den «Sonntagsweg» nochmals – einfach im Kopf.

2 Gedanken zu „Sonntagsweg

  1. geht mir auch so 1: wenn spazierwege und eigernordwände durcheinander geraten, gibts nur die flucht ans licht – und wenn es grau und flau wie dimmerföhn ist (der ja ebenfalls glarner wurzeln hat).
    geht mir auch so 2: dass die wand zur halle wird, bzw. die halle nicht mehr infrage kommt. denn für die 36 franken kriegt man schiesslich ein hardcover (heute ist ein päckchen mit stasiuks blechwand eingetroffen: 34 franken 90 – ebenfalls gut gegen persönlich einstürzende welten).
    abgesehen davon: «morgen sonntag in den zentralen und östlichen landesteilen trotz ausgedehnter hoher wolkenfelder zeitweise sonnig». in diesem sinne: guten sonntagsweg.

  2. Dimmerföhn – danke, Marco, das ist die korrekte Bezeichnung für unsern «grauen Föhn», der auch den Sonntag noch etwas verdüstert hat. Unser «Sonntagsweg» war diesmal weniger steil – Gulmen. Danke auch für deine immer wieder überraschenden Fotos der Woche, samt den originellen Texten.

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