Warum denn in die Ferne schweifen, wenn man mit Hohlerschem Humor die Faszination der Nähe zu Fuss erkunden kann. Auf eigenen Schusters Rappen oder dann im Sofa mit seinen Texten, die von großer Achtsamkeit und Beobachtungsgabe zeugen – wobei die Nähe machmal auch Südkorea heissen kann. Denn die Welt ist ja klein geworden, auch für Berufsspaziergänger, Schwamendingen ist uns so nah oder fern wie Seoul.
„Einen See will ich aufsuchen heute, um an seinem Ufer einen Schattenspaziergang zu machen.
In Ziegelbrücke, diesem potemkinschen Dorf, das keinen eigenen Poststempel hat, in dem aber sogar die Schnellzüge von Wien halten, damit man nach Glarus umsteigen kann, besteige ich den Regionalzug nach Sargans und verlasse ihn schon zwei Minuten später in Weesen wieder. Bei diesem Bahnhof ist überhaupt kein Dorf zu sehen, bloß eine gigantische Lagerhalle für Altmetall. Dafür bin ich auch gleich in einer Ufermoorlandschaft mit ehrwürdigen Pappelbäumen, welche als Windbrecher die Linthebene beschützen, und nach kurzer Zeit stehe ich auf einem Kiesstrand und begrüße den Walensee, diesen merkwürdigen Fjord zwischen den Dinosaurierzacken der Churfirsten und den Buckeln der Voralpen. Durch die Dunstdecke über der Wasseroberfläche könnte sich jederzeit das Haupt eines Seeungeheuers erheben.“
Der Auftakt zu einem Spaziergang am schattigen Ufer des Walensees, zuerst nur bis Mühlehorn, dann aber noch weitere drei Stunden bis Walenstadt, wo der Spaziergänger oder Wanderer endlich ein Bad im See nimmt. Ein Jahr lang, vom 12. März 2010 bis zum 4. März 2011, hat der Schweizer Autor und Kabarettist Franz Hohler jede Woche einen Spaziergang unternommen. Was ihm dabei widerfahren und aufgefallen ist, hat er festgehalten, wie schon 2005 im Buch „52 Wanderungen“. Natürlich ist Hohler in den letzten sieben Jahren nicht jünger geworden, aber wer jetzt glaubt, seine Touren seien flach wie der Walensee geworden, irrt sich. Das geht’s hinauf bis auf den Tödi und hinunter in den neuen Eisenbahntunnel von Zürich, da geht’s von seiner Wohnung aus in alle vier Himmelsrichtungen, querbeet durch Strassenschluchten und Hinterhöfe, über Zäune und Eisenbahndämme, und manchmal auch durch ein Stück Wald.
In seinen zwei- bis dreiseitigen Texten, die von großer Achtsamkeit und Beobachtungsgabe sowie vom typischen hohlerschen Humor geprägt sind, setzt sich der Berufsspaziergänger auch mit der Frage auseinander, was ihm – und indirekt auch: was uns – heute Heimat bedeuten kann. Im Bergalgatal im Avers wie in der Unterführung beim Bahnhof Seebach unweit von Oerlikon. Mir persönlich gefällt der Stadtwanderer Franz am besten, weil sich da einer zu Fuss aufgemacht hat, mit dem Notizbuch durch unsere Zivilisation zu stiefeln. Warum denn in die Ferne schweifen, sieh, das Spannende liegt so nah! Wobei Hohler auch in Ferne spazieren geht, in den Högern von Südkorea beispielsweise.
Aber am Samstag, 21. April 2012, wollen wir an den Walensee fahren; nur spazieren wir dann nicht dem Schattenufer entlang, sondern steigen in die sonnige Höhe nach Amden; wir könnten auch fahren. Einfach vor zehn Uhr sollten wir im Gemeindesaal eintreffen, ja besser noch früher, denn der Saal wird voll von Berggängern und Literaturwanderern sein; eigentlich ist die Veranstaltung schon ausgebucht, aber vielleicht findet ja ein Bergfahrtenleser den Weg von Ziegelbrücke nach Amden nicht, so dass ein Platz frei wird. Dort oben auf der Sonnenterrasse findet die von Emil Zopfi angeregte und organisierte „Bergfahrt – Begegnung mit alpiner Literatur“ zum fünften Mal statt.
Der Österreicher Kurt Diemberger, eben 80 geworden, stellt am Morgen sein jüngstes Buch vor: „Unterwegs zwischen Null und Achttausend. Bilder aus meinem Leben“ (AS Verlag). Schwerpunkt am Nachmittag ist der Frauenalpinismus. Den Auftakt macht die Journalistin und Fotografin Caroline Fink mit einer Multimedia-Präsentation, gefolgt von Texten von Annette Frommherz und Maya Albrecht. Darauf stellt Patricia Purtschert ihr ausgezeichnetes Buch „Früh los. Im Gespräch mit Bergsteigerinnen über 70“ vor, und drei von ihr porträtierte Alpinistinnen ergreifen selbst das Wort: Silvia Metzeltin, Heidi Schelbert und Ruth Steinmann. Anschliessend moderiert Caroline Fink ein Gespräch unter verschiedenen Generationen über die Rolle der Frauen im Alpinismus. Danach gibt es eine Kaffeepause – was es übrigens auch nach einer Männerrunde gäbe. Das Finale der diesjährigen Frühlingsliteratour bildet ein Theaterstück nach einem gebirgigen Text: diesmal nach dem Älplerroman „Sez Ner“ von Arno Camenisch, inszeniert von Schauspieler Gian Rupf und Akkordeonist Hans Hassler. Zuletzt, wenn die Abendsonne die Churfirsten hoch über dem Walensee zu färben beginnt, wird vielleicht nochmals das Alphorn von Andreas Weissen ertönen.
Franz Hohler: Spaziergänge. Luchterhand Verlag, München 2012, Fr. 27.50.