Die Weissenberge gehören den Glarnern. Und ein bisschen auch mir. Denn sie erzählen Geschichten, wie sie mir dort begegnen. © Annette Frommherz
Fünfundachtzig sei er schon, sagt er, und seine Frau auch. Sie seien halt nicht mehr so schnell, meint er, als müsste er sich entschuldigen, als ich ihn bergauf überhole. Sie müssen ja nicht pressieren, sage ich, das haben Sie bestimmt genug in Ihrem Leben. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie nun mehr zur Verfügung haben als unsereins.
Seine Frau ist hinter ihm geblieben. Er wartet auf sie. Mit gekrümmtem Rücken und einer geduldigen Achtsamkeit setzt sie einen Fuss vor den anderen. Die roten Schneeschuhe sehen an ihr fremd aus. Nun hat sie aufgeholt.
Die Weissenberge heissen auch im Sommer so, wenn sie grün sind. Winterthur besteht ja auch den Sommer durch. Genau wie Finstersee an keinem solchen See liegt, schon gar nicht an einem finsteren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Dorf Matt im engen Sernftal liegt schon bald im Schatten. Mit Sonne sind sie winters nicht verwöhnt, die Mattmer oder Mattener oder wie sie sich nennen mögen. Weiter oben finden die Sonnenanbeter nicht nur mildere Temperaturen, sondern auch Routen, auf denen sich die Masse breit verteilen kann. Die einen zieht es Richtung Leidplangge, die anderen zum Zindelchopf oder Fuggstock.
Schön, sage ich zu meiner Verbündeten, der Sonne. Sie scheint unbeteiligt. Alleine unterwegs zu sein hat auch seine Vorteile. Schnell kommt man mit anderen Artgenossen ins Gespräch. Noch versuche ich herauszufinden, ob es Mitleid ist, das dazu bewegt, mich anzusprechen – ich könnte als sozial verkümmert angesehen werden -, oder weil es einfacher ist, als Zweisamkeit zu stören.
Oben, unweit des Stäfeli, setze ich mich und schreibe und lese. Der Mann und die Frau mit den roten Schneeschuhen kommen bald dazu. Sie setzen sich und trinken Tee. Schön, gäll, sagt der Mann, und tätschelt seiner Frau das Knie. Er ist schwerhörig, sagt sie zu mir, Sie müssen laut zu ihm reden. Früher, sagt er, ohne mich anzuschauen, früher sind wir oft in die Berge. Ich sage laut zu ihm: Da haben Sie sicher viel zu erzählen. Aber er hat es nicht gehört. Er schaut in die andere Richtung, hinüber zum Garten des Vreneli, und ich wünschte mir, die Beiden seien dort oben auch schon gewesen.
Er hilft ihr mit den Schneeschuhen, bietet ihr nochmals Tee an, sie bricht ihm ein Stück Schokolade ab. In ihren Worten, in ihren Bewegungen liegt Vertrautheit. Ich kann mich kaum satt sehen an den Beiden, die wohl mehr als ihr halbes Leben Seite an Seite verbracht haben und noch immer so sorgsam miteinander umgehen.
Weit hinten ist Mehl am Horizont gestreut, die Dimensionen verblassen zum Einerlei. Mir ist kalt geworden. Später überhole ich nach meiner Rundtour die Beiden wieder. Ihre Schritte sind langsam. Wir begrüssen uns wie alte Bekannte. Mögen sie, denke ich, noch lange zusammen unterwegs sein.
Ja, das alte Ehepaar… eine Spezies, welche langsam ausstirbt! Der Text hat mich sehr berührt und eigentlich sind die beiden zu bewundern und zu beneiden. Meine Mutter ist jetzt neunzig Jahre alt und hat vor zwei Jahren nach sechzig Jahren Ehe ihren Mann verloren.Was das nach so langer Zeit heisst, können wir uns kaum vorstellen.