Bericht von Ralph Schnegg über eine Tour der Sektion Bern des SAC über den Hirondellesgrat auf die Grandes Jorasses. Am 2. Juli 2011 ist er zusammen mit Martin Stucki im Montblancgebiet abgestürzt. (Näheres und Trauerfeier im Anhang zum Text.)
Der Glacier de Frébouze schwitzt fast so sehr wie wir, am Montag, 4. August 2003, um halb drei Uhr. Der Gletscherbach ist riesig und auf dem üblichen Hüttenweg nicht zu überwinden, keine Brücke weit und breit. Also steigen wir ab und überqueren ihn dort, wo er sich in mehrere Arme teilt. Wiederaufstieg in sengender Sonne. 100 m höher und 1 Stunde älter erreichen wir wieder den „Hüttenweg“. Über steile Schrofenhänge, glatte Gletscherschliffplatten und an weit offenen Gletscherspalten vorbei erreichen wir das Bivacco Gervasutti. Tee kochen und trinken, „spiegeln“, Tee kochen und trinken, in den Rucksäcken wühlen, Tee kochen trinken, 1A-Spaghetti kauen und das Wetterleuchten beobachten. Um 23:00 liegen alle. Einige schlafen sogar, alle stehen um 3:00 wenig ausgeruht auf. Mischu Wirth, le guide, findet den Weg durch den ausgemergelten Glacier de Frébouze auf Anhieb. Eisschrauben und Firnschwerter leisten gute Dienste. Nach vier Stunden stehen wir unter dem hämisch grinsenden Bergschrund am Col des Hirondelles, überlisten ihn aber auf nahezu idealer Linie.
Was fliegt da schon fröhlich durch die Lüfte? Schwalben? Es sind Steine. Wir ziehen den brüchigen Fels am Grat dem erdigen in der Wandmitte vor, den uns der Rother-Führer anrät. Nur kurze Abschnitte auf dem Grat sind wirklich fest. Schauen und kauen in der Pause vor der V-Scharte mit Blick auf die Schlüsselseillänge, dem senkrechten Rey-Riss (V+). Tee hilft beim Schlucken. Löru muss plötzlich. Mischu führt, wir folgen. Die ersten Züge souverän, später weniger, oben keuchen und schütteln. In der schwach ausgeprägten Verschneidung suchen wir den Riss im Grund. Es beginnt leicht zu regnen. Wir klettern weiter über den brüchigen Grat, einige brüchige Aufschwünge in den brüchigen Flanken umgehend. In regelmässigen Abständen donnern Wagenladungen von Steinen durch die Ostwand. Später kommt das Donnern auch von den Blitzen, die eigentlich erst morgen hätten kommen sollen. Wir quetschen uns in eine Nische unter dem Grat und warten. Lustig kollert Styropor-Graupel über den Biwaksack. Das Gewitter lässt allmählich nach, wir steigen weiter, geben Schub. Wir sehen jetzt das Gipfelfirnfeld. Der Grat verliert sich in der Flanke des Tronchey-Grats. „Achtung!“ – es donnert, knallt und stinkt. Wir sehen Steine fliegen, grosse und kleine, hören sie aufschlagen – auch auf unsere Rucksäcke. Wir ducken uns. „Verdammt meine Nase, ich blute“. In der Umgebung von Mischu wird der Schutt rot. Es hat ihn erwischt – schlimm? Tourenleiter Tinu Stucki verabreicht Notfalltropfen, Arnika und verbindet notdürftig. Wie auf Eiern schleichen wir weiter. Wo früher Firn und Eis den Berg zusammenhielt, warten jetzt Blöcke und Platten auf steilem Schutt auf ihre Höllenfahrt in die Tiefe.
Schlagartig wechselt die Stimmung auf dem Gipfel in der sanften Abendsonne. Entspannung, vielleicht auch etwas Stolz. Pointe Walker (4208 m), der höchste Punkt der Grandes Jorasses. Hinüber zur Whymper-Rippe. Auf einem bequemen, breiten Band machen wir uns zum Biwakieren auf 4200 m bereit. Alles anziehen, den Rest an das fixierte Seil hängen. Essen, trinken, aber nur wenig: die Kocher leiden an Höhenkrankheit. Lagebesprechung: Es ist gleich klar, dass Mischu zum Arzt muss und wir einen Ruhetag brauchen. Dann schauen wir weiter. Der Gran Paradiso versinkt im Dunkel der Nacht. Rein in den Sack und warten, dösen, rutschen. Es wird kalt, der Morgen dämmert. Wetterleuchten über dem Aosta-Tal. Um 6:00 raus, die Glieder biegen, bewegen, schütteln. Etwas kauen, einen Schluck Tee trinken und über Whymper-Rippe, Reposoir-Felsen und den Glacier de Planpincieux zur herrlich über den Séracs des Gletschers gelegenen Boccalatte-Hütte absteigen. Dort trinken wir erst einmal. Abstieg ins Tal und Heimfahrt in die Notfallaufnahme am Inselspital: Mischus Verletzung ist weniger schlimm als befürchtet. Der Arzt rühmt die Wundversorgung durch unseren Tourenleiter.
Der Hirondelles-Grat auf die Grandes Jorasses ist, was man früher eine grosse, ernsthafte Bergfahrt nannte. Niemand äussert den Wunsch die Überschreitung jetzt weiter zu führen.
Der extrem heisse Sommer nach dem schneearmem Winter setzt den hohen Berge arg zu. Viele Routen haben sich völlig verändert, die meisten sind gefährlicher geworden. Vielleicht werden wir die Überschreitung zum Col des Grandes Jorasses und über den Rochefort-Grat einmal bei besseren Bedingungen vollenden.
Ralph Schnegg, Bibliothekar am Geographischen Institut der Uni Bern, Redaktor der Skitourenkarten Rochers-de-Naye, St-Maurice und Montana sowie Co-Autor (mit D.A.) von Skitouren- und Wanderführern für die Berner, Freiburger und Waadtländer Alpen, schrieb den mit „Steine statt Schwalben“ betitelten Bericht über eine Sektionstour auf die Grandes Jorasses für die Clubnachrichten der Sektion Bern des Schweizer Alpen-Clubs. Am 2. Juli 2011 ist er zusammen mit Martin Stucki im Südcouloir des Col Armand Charlet – er liegt zwischen der Grande Rocheuse und der Aiguille de Jardin im Ostgrat der Aiguille Verte – abgestürzt. Die Trauerfeier findet am Dienstag, 12. Juli 2011, um 13.45 in der Kapelle des Schosshaldenfriedhofs Bern statt.
Bin durch Zufall auf diese Seite gekommen.
Es hat mich auch im Nachhinein wieder sehr aufgewühlt.
Ich habe die zwei Bergkammeraden am Auslauf des Südcouloir
am Morgen ca 4 Uhr gefunden.
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In tiefer Trauer
Hengge Karl