Stöcklichrüz

Skitour auf einen Hügel am Zürichsee – ein seltenes Ereignis. Der anhaltenden Kälte und dem strahlenden Wintertag sei Dank.

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Im Zug kommt mir wieder mal ein alter Witz in den Sinn. Welches ist die lustigste Bahnstation der Schweiz? Siebnen. Weil man vor Lachen aussteigen muss. Heute steigen wir aber nicht vor sondern in Lachen aus. Und der Himmel lacht, wenn wir schon bei dem lustigen Thema sind. Hochnebel war angesagt, nichts davon ist zu sehen. Nur weisse Winterlandschaft im Sonnenlicht. Wo’s hochgeht, ist leicht zu finden, die Tour ist eine Piste. Wir sind, wie immer, zu spät für den unberührten Pulverschnee, aber was solls. Wer ihn heutzutage sucht, muss spätestens bei erheblicher Lawinengefahr losziehen, sonst kommen einem andere zuvor. Ausser das Wetter und die Kälte schenken einem einen so schönen Skiberg wie das Stöcklichrüz im Pulverschnee, was wegen der Klimaerwärmung nur noch alle paar Jahre mal vorkommt.
Frohgemut fellen wir hoch, überholt von ein paar Schnellen. Beim ersten Kreuz gibt’s Rast und Tee. Der Hügel macht seinem Namen Ehre, auch am Gipfel schauen zwei Kreuze ins Tal, eins in die March, das andere nach Einsiedeln mit dem Kloster. Der höchste Punkt ist einem Triangulationsdreieck vorbehalten. Die Landestopografie (also Wissenschaft) steht hier über der Religion (also dem Glauben). Das macht das Stöcklichrüz irgendwie säkular, trotz dem religiösen begründeten Namen.
Aber wir sind ja noch im Aufstieg. Früher muss die Tour wohl jedes Jahr machbar gewesen sein, gehörte sie doch ins Standardprogramm als Einsteigertour bei der IO des SAC Bachtel, der ich damals angehörte. Ich sehe den IO-Leiter noch vor mir, Walter Z., eine Art Vaterfigur mit weisser Dächlikappe, Knickerbockern, einem Rubi-Rucksack mit Lederboden und stets eine Zigarette im Mundwinkel. Ruhig und bestimmt, eine Autorität. Mit uns jungen Wilden hatte er eher Mühe, weil wir lieber privat kletterten, als auf IO-Touren. Am ehesten kamen noch Skitouren in Frage. Also hiess es: teilnehmen oder den ausgeliehenen Eispickel wieder abgeben. Ich entschied mich fürs Abgeben.
Auf jener Skitour im Bündnerland war ich nicht dabei, als es passierte. Die IO fuhr ab von einem Gipfel auf eine Alp, ein Prachtstag wie heute. Fünf starke Skitourengänger baten den Chef, nochmals zu einem weiteren Gipfel aufzusteigen, Walter hatte nichts dagegen. Die Fünf wurden von einer Lawine verschüttet, vier nur noch tot geborgen. Darunter mein Kletterfreund Hans T. Der Fall endete vor Bundesgericht, das Walter Z. wegen fahrlässiger Tötung verurteilte. Er hatte den Lawinenbericht nicht beachtet. Er habe zeitlebens unter dem Urteil gelitten, sagte man, ist wenige Jahre darauf verstorben. Ich bin kein Jurist, habe mich aber nach dem schweren Militär-Lawinenunglück an der Jungfrau im Jahr 2007 gewundert, dass die Bergführer freigesprochen wurden, trotz sehr schlechtem Lawinenbericht. Das Bundesgerichtsurteil im Fall der IO Bachtel sollte ja eigentlich wegweisend sein, Gregor Benisowitsch ist in seiner alpin-juristischen Dissertation ausführlich darauf eingegangen.
Vielleicht wälze ich an diesem so schwerelosen Tag am Stöcklichrüz so schwere Gedanken, weil in den letzten Tagen wieder viele Menschen in Lawinen umgekommen sind. Darunter eine Gruppe der SAC-Sektion Lägern. Und ein Tourenleiter der Sektion Bachtel am Gulmen, einem Hügel, von dem man sagt, da könne man bei jeden Verhältnissen hinauf. Wie aufs Stöcklichrüz.
Inzwischen sind wir auf dem Gipfel angekommen, der Biswind bläst und lässt die gefühlte Kälte absinken. Schnell die Felle weg, kurz in die Runde geschaut: Bachtel, Säntis, Bockmattli, Vrenelisgärtli, irgendwo die Mythen. Alles im hellen Licht, schneebedeckt, und in der Tiefe der mattgrüne See, Rapperswil, die Inseln, der Damm. Und Lachen, das Dorf, das mit neuen Wohnquartieren fast zur Stadt gewachsen ist. Dann Picknick an einem windgeschützten Schneehang, Abfahrt auf der verkrusteten verfahrenen Piste, gelegentlich noch ein unberührtes Stück Pulverschnee. Ein paar Schwünge, ein bellender Hund bei einem Hof, die letzte leicht geneigte Fläche mit Stockhilfe. Ein alter Mann, dem wir auf der Strasse begegnen, sagt: «Ah, die Stöckliabfahrt.» «Ja, und zuvor der Aufstieg», sagt einer von uns.

(Fotos Heini Gächter)

2 Gedanken zu „Stöcklichrüz

  1. Emil, der Bericht gefällt mir sehr gut. Vor etwa 25 Jahre habe ich mit der Alpinen Sektion diese eindrückliche Skitour auch genossen. Bin mit deiner Beurteilung der Lawinenunglücke gleicher Meinung. Was mich auch freut: du erwähnst den Rubi Rucksack. Ich habe noch so ein Modell! Der Rubi hat in Meiringen produziert, sein Bruder war ein Bergführer in Grindelwald.
    Liebe Grüsse Nick

  2. An Nick Ryser,
    bin zufällig auf diese Seite gelangt und habe mich gefreut über die Einträge betr. Rubi-Rucksack. Peter Rubi war mein Vater, er ist im 1987 gestorben. Natürlich besitzen wir noch Rucksäcke welche er gemacht hat. Als Kind habe ich viel in der Werkstatt mitgeholfen, z.B. Fäden verknotet oder Lederkleinteile
    mit Arabischem Gummi “ verputzt“. Es gab Zeiten, da hatte jeder Bergführer in Grindelwald und anderswo einen Rubi-Rucksack und einen Bhend-Pickel. Besass man beides, war man „in“. freundliche Grüsse aus Meiringen
    Liselotte Raess-Rubi

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