Sturz 2

Wieder mal ein Sturz, der Stoff gibt zum Nachdenken. Über historische und aktuelle Koinzidenzen.

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Der Sturz war lang. Nicht mein Leben zog an mir vorbei, sondern ein gelbgrauer Film aus Fels. Schon glaubte ich, den Zug des Seils zu spüren, doch weiter ging’s. Und weiter. Zeitempfinden ist bekanntlich nicht linear, die gefühlte Zeit des Sturzes dehnte sich etwa so weit aus, wie zum Beispiel das ganze Jahr 1986 in meiner Erinnerung. Und dann hatte der Sturz endlich ein weich federndes Ende. Es waren nur sechs Meter, meine sichernde Ehefrau bestand auf fünf. Jedenfalls hangelte ich gleich am Seil hoch und kletterte die Stelle. Nur ein Finger blutete ein bisschen.
Gufächüssi auf der Galerie, hundert, zweihundert Mal geklettert. Die Stelle ist sicher nicht ganz einfach (6b+), und im Lauf der Jahre wurde sie noch etwas schwerer. Nicht wegen der Gufä, die inzwischen nicht mehr so ganz spitzig sind wie auch schon. Irgendwann brach ein Griff weg, ein wunderbarer Untergriff. Man konnte den Move in einer Art Tangoschwung elegant nehmen. Ohne diesen Griff dauerte es etwas, bis ich weit rechts einen kleinen Tritt entdeckte, und noch weiter oben ein raues Griffchen. Warum ich an der Stelle stürzte, die ich sonst im Schlaf klettere, weiss ich nicht mehr, das hat mein Ultrakurzzeitgedächtnis gelöscht. Vielleicht wollte ich einer etwas vorlauten jungen Churerin auf der Route nebenan zeigen, wie der alte Hase läuft. Oder ich dachte sonst was anderes, wie so oft. Allah straft sofort.
Zu Hause lag auf meinem Schreibtisch ein Zettel, auf den ich am Morgen noch etwas gekritzelt hatte, eine Spontanidee: «Der Sturz war lang», stand da. Also wieder mal eine der seltsamen Koinzidenzen, die mich so faszinieren. Es war nicht eine Beschwörung in der Art: Nimm den Regenschirm mit, dann bleibt es sicher trocken. George Mallory beispielsweise schrieb 1924, bevor er zum Everest aufbrach, einem Freund: «I don’t expect to come back.» Es nützte ihm nichts, er kehrte nicht mehr zurück, wie wir wissen.
Mein Satz auf dem Zettel war also nicht von der Art: Ich sage einen Sturz voraus, damit er nicht eintritt. Es war der erste Satz für ein Porträt des britischen Alpinisten Geoffrey Winthrop Young, der mir beim Zähneputzen eingefallen war. Der beinamputierte Young tat am 24. Juli 1935 am Zinalrothorn einen Sturz, viel weiter als meiner, nämlich 25 Meter in ein hartes Hanfseil. Sein Führer Josef Knubel, im Abklettern überrascht, hielt den freien Fall mit der linken Hand, mit der rechten klammerte er sich an einen Griff. Da gab’s also weder Grigi noch Bohrhaken noch sonstwas, nur Kraft und blitzartige Reaktion. Young schilderte die Sturzerfahrung über viele Seiten minutiös in seinem Buch «Meine Wege in den Alpen». Einen Auszug habe ich schon mal auf diesem Blog veröffentlicht: http://bergliteratur.ch/youngs-sturz-am-zinalrothorn/. Und einen Tag später stürzte ich selber wieder mal … Auch das ist hier nachzulesen. http://bergliteratur.ch/sturz/
Young war übrigens ein Mentor und Männerfreund von Mallory. Also auch wieder so eine Koinzidenz.
Über meinen Sturz kann ich weiter nicht mehr viel mehr berichten, ausser vielleicht, dass auch die junge Churerin nebenan ins Seil fiel. Und dass am gleichen Tag eine gute Bekannte beim Wandern schwer stürzte, so dass sie im Spital landete. Wo? Sie ahnen es: in Chur.

Foto: Marco Volken.

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