Sulzfluh

Auf eigenen Spuren in der «Neumann-Stanek» in der Sulzfluh Südwestwand. Wieder mal so eine Nach-fünfzig-Jahren-nochmals-Tour. Nicht mehr Mode und trotzdem schön – oder gerade deswegen.

sulzfluhsw


Peter Arigoni ruft an, super Wetter, Treffpunkt Montag früh, Bahnhof Sargans. Über vierzig Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen, aber wir erkennen uns gleich. Ja, ein bisschen weisser geworden sind wir, vielleicht sogar weiser, wer weiss. Jedenfalls haben wir uns viel zu erzählen auf der Fahrt nach St. Antönien und hinauf zu den Lawinenverbauungen. Dann zu Fuss dem Hang entlang zur Garschinahütte, die Rätikonwände liegen noch im Schatten. Peter schliesst das alte Kletterhüttli auf, das er heute besitzt, zeigt mir den Holzherd, den er während der Lehre selber gebaut hat. Eisen, solides Handwerk. Sein Vater war hier der Hüttenwart, als ich mit meinem Freund Hansruedi Horisberger zum ersten Mal übernachtete, auf den Pritschen im keinen Raum, genau fünfzig Jahre ist’s her. Ein Tag wie heute, wolkenlos und warm. Und wie heute stiegen wir am Rand der mächtigen Geröllhalde gegen die Südwestwand der Sulzfluh hinauf, dann noch zweihundert Meter höher über schuttbedeckte Felsstufen bis sie dann immer steiler werden. Heikles Gelände, wie es unter Hallen- und Klettergartenkletterern nicht mehr so beliebt ist, und so wird die Neumann-Stanek, der Klassiker in der Südwestwand der Sulzfluh, nicht mehr so häufig begangen. Einst stand man Schlange an schönen Tagen, heute ist die Wand verlassen, wir sind allein.
Meine Erinnerung ist schon etwas verblasst, aber ein Klemmblock in einem Riss, kurz vor dem grossen Quergang, kommt mir bekannt vor, aber obwohl er schon vor fünfzig Jahren da steckte, fasse ich ihn nur vorsichtig an. Einmal bricht so ein Ding aus, der letzte Haken steckt schon weit unten. Der lange Quergang ist ja ziemlich luftig, aber doch recht griffig. Eine alte Schlinge hängt noch da, aber die Täfelchen mit den Namen von Kletterern, die an dieser Stelle abstürzten, hat jemand entfernt. Aber ich weiss, einer war Jakob Krebser aus Uster, Erstbegeher der Bockmattli-Nordwand. Heute steckt ein dicker Muniring am Stand und macht das Abstürzen eher unwahrscheinlich.
Vor der Schlüsselstelle, der grossen Verscheidung, lässt mir Peter höflich den Vortritt. Er ist die Route immer wieder geklettert, ich in jener fernen Jugendzeit nur zwei oder drei Mal. Der Rucksack, dem Plaisirkletterer ungewohnt, zieht schon etwas in die Tiefe, aber alles läuft glatt und rotpunkt und ein bisschen keuche ich am Stand. Die Seillänge ist auch historisch interessant, ein Sammelsurium von mächtigen alten Ringhaken, wohl von den Herren Neumann und Stanek selbst geschmiedet, von nicht ganz neuen Bohrhaken und einem metallglänzenden U-Haken.
Ein Schluck Wasser und weiter. Plötzlich ist man in einem feucht riechenden Felsenloch, in dem ein Schild hängt, «Salon», und hoch oben an der Kante baumelt eine Schlinge. Damals, denke ich, haben wir da wohl mit Leiterli operiert, aber es geht auch ohne, und auch die folgenden Risse und Kamine sind zu schaffen, ein bisschen schiebend und klemmend und mit dem Rucksack am Fels scheuernd. Nur die Hosen leiden etwas bei dem klassischen Kletterstil. Im Ausstieg steckt gar noch ein verfaulter Holzkeil und erzählt von heroischem Ringen, vielleicht in einem Sturzbach im Gewitterregen.
Der Grat, die weissen Karstfelsen, der Blick hinab ins Rheintal hinüber zur Spitze der Zimba. Ein unglaubliches Glücksgefühl, ein halbes Jahrhundert schrumpft zu einer Sekunde. Damals war die Route unser Durchbruch zu schwierigeren Kletterrouten, wir waren nicht mehr zu bremsen in jenem Herbst. Wir hatten das Gefühl, jede Route, die es damals gab, zu schaffen. Ja, sogar die Gelbe Wand der Scheienfluh, die im Abstieg durchs Gemstobel vor uns liegt, damals eine der schwierigsten der Schweiz. Am Abend zuvor hatte uns der Hüttenwart Arigoni den Feldstecher in die Hand gedrückt, wir sahen zwei Punkte am Ausstieg über den Überhängen, einer davon war Peter. Und jene Wand unser fernes Ziel. Es dauerte ein paar Jahre, bis ich auch so ein Punkt war dort drüben.
Abstieg und Wiederaufstieg zur Hütte, zu Schorle und Kaffee und Schokoladekuchen und zum Blick hinauf in die Wand, die nun in der Sonne glüht und wieder ganz und gar verlassen ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert