Die Entstehung der Alpen auf Papier, 30 x 24 x 2 cm in Ausdehnung und Dicke. Das Buch „Tektonikarena Sardona – Faszination UNESCO-Welterbe“ macht’s möglich.
„Endlich waren wir nun wieder in Sicherheit und durften ruhig und ohne Sorge für’s Weiterkommen an die Sonne auf ein ebenes Rasenstück liegen, um den Schauplatz der heutigen Arbeit zu betrachten. Aber ich hatte so genug von Felsköpfen bekommen, dass mir schon das Aufblicken zu ihnen fast übel machte; um so gemüthlicher schlenderten wir über den Schnee hin zum Segnespass. Ein Gang durch’s Martinsloch hatte keinen Reiz mehr und unterblieb auf Elmer’s Bemerkung hin: „Äch, mer müessted wieder chlättere!“
Mehr als verständlich, diese Bemerkung von Bergführer Heinrich Elmer nach der ersten Überschreitung der Tschingelhörner mit der ersten Besteigung des Grossen Tschingelhorns (2849 m) in den Glarner Alpen, ausgeführt am 23. Juli 1867 zusammen mit seinem 16-jährigen Sohn Peter und mit Dr. med Fridolin Schläpfer aus Tägerwilen. Der Gast beschrieb im sechsten „Jahrbuch des Schweizer Alpenclub“ von 1869-70 die „schlimme Kletterei“ über den „schauerlich zerrissen und nackt dastehenden Tschingelkopf, der wie alle seine Kumpane aus erzfaulem, abbrökelndem, in den verschiedenen Richtungen gelagertem grauem Schiefer besteht.“ Freundliche Felsbezeichnungen sucht man im Text so vergeblich wie die Tschingelhörner-Besteiger nach festen Griffen tasten. Auf dem Hauptgipfel bauten die Elmers einen Steinmann, während der Gast aus dem fernen Thurgau einen Zettel beschrieb, der in eine ausgetrunkene Flasche gesteckt und hinter einer Steinplatte deponiert wurde: „Wer meine Stimmung auf dem so mühsam errungenen, grausigen Gipfel erfahren will, den muss ich bitten, selbst hinzugehen und den Zettel zu lesen.“ Gipfelliteratur der ganz besonderen Art. Perfekt passend zu diesen ganz besonderen Hörnern aus brüchigem Fels.
Die Tschingelhörner nämlich, einst auch „Mannen“ oder „Jungfrauen“ genannt, sind das Herz des UNESCO-Weltnaturerbes Tektonikarena Sardona. Seit 2008 ist das gebirgige Dreieck der Kantone Glarus, Graubünden und St. Gallen auf der prestigeträchtigen Liste, die in der Schweiz zwölf Stätten umfasst: neun des Weltkulturerbes (zum Beispiel die Altstadt von Bern) und drei des Weltnaturerbes (noch die Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch und der Fossilienberg Monte San Giorgio). In der Tektonikarena Sardona lässt sich die Gebirgsbildung so eindrücklich erleben wie nirgendwo sonst auf der Welt. Das wäre natürlich ein Grund, die sogenannte Glarner Hauptüberschiebung vor Ort zu besichtigen, wandernd und vielleicht auch kletternd, zum Beispiel zum Martinsloch.
Das 18 m hohe und 15 Meter breite Loch ist ein einzigartiges Ziel. Jedes Jahr zur Sonnenwende im März und September scheint die Sonne durch dieses Loch unter dem Grossen Tschingelhorn auf das Glarner Dorf Elm und beleuchtet den Kirchturm rund zweieinhalb Minuten lang. Ganz selten blickt auch der Vollmond durchs Martinsloch auf Elm hinunter. Ein solches Naturschauspiel beeindruckt noch heute die Menschen; vielleicht noch eindrücklicher ist es, wenn man selbst in diesem riesigen Felsenfenster steht. Man blickt schier senkrecht nach Elm hinunter, man spürt den Wind, der hindurch düst, man begreift die Alpenfaltung, die sich hier in der Glarner Hauptüberschiebung so klar wie sonst nirgends zeigt.
Gemütlicher ist es aber, den neuen Bildband „Tektonikarena Sardona“ von Roland Gerth, Adrian Pfiffner und ihren Mitarbeitern zu bestaunen und zu lesen. Grossartige Boden- und Luftaufnahmen, aufschlussreiche geologische Fotos und verständliche Texte machen das Buch zum unverzichtbaren Begleiter drinnen und draussen. Millionenalte Erd- und Naturgeschichte wird auf 124 Seiten wirklich greif- und erlebbar. Die erste Doppelseite zeigt natürlich die durchs Martinsloch scheinende Sonne mit den schauerlich zerrissenen Tschingelhörnern. Ihnen – und der magischen Linie des Lochsitenkalks zwischen Flysch-Gesteinen unten und Verrucano-Gesteinen oben – begegnen wir immer wieder in diesem überaus reizvollen Buch, das nicht nur die eigentliche Tektonikarena Sardona umfasst, sondern auch Tödi, Calanda und Churfirsten, Tamina- und Rheinschlucht. Und den Bergsturz von Flims. Kurz: Langweilig wird es einem mit und in diesem Stück Schweiz nicht. Oder um es mit dem „Führer für Flims und Umgebung“ zu sagen:
„Es gibt wenig Gegenden, die, wie Flims, eine solche Mannigfaltigkeit von Spaziergängen und Wanderungen umfassen, vom gemächlichen Schlendern durch wohlgepflegte Parkanlagen bis zur tagelangen Berg- und Klettertour, auf welcher der höhendurstige Mensch oder der klubistische Fanatiker sein letztes Restchen Atem auspumpen kann.“
Roland Gerth, Ruedi Homberger (Fotos); Adrian Pfiffner, Thomas Buckingham, Harry Keel (Texte): Tektonikarena Sardona – Faszination UNESCO-Welterbe. AS Verlag, Zürich 2018, Fr. 48.-, www.as-verlag.ch