Tödi, Dichterberg

Der Tödi hat wie wenige andere Berge die Dichter, Schriftsteller und schreibenden Bergsteiger fasziniert. Auf den Spuren von Max Frisch, Karl Kraus, Meinrad Inglin, Hans Morgenthaler, Johannes Hegetschweiler, Placidus Spescha, Rudolf Theodor Simler und andern. Eine dreitägige Wanderlesung am Tatort Tödi.

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Der Berg ist die Geschichte. Beim Tödi jedenfalls trifft dieser Satz. Selbst der Grat, der die beiden Hauptgipfel fast horizontal verbindet, trägt den Namen eines Dichters: Simlergrat. Nun war Rudolf Theodor Simler ja nicht eigentlich ein Dichter, sondern Chemieprofessor und Gründer des Schweizer Alpen-Clubs SAC. Gedichtet hat er nur nebenher, etwa das Gedicht «An den Tödi-Rusein», das er 1873, kurz vor seinem Tod, seinem «Dichter-Freunde Vogel von Glarus» widmete. Mehr Dichtung als Wahrheit war auch, als sich Simler 1861 nach der Besteigung des Piz Rusein in einem «Schriftchen» brüstete, der erste auf der höchsten Spitze des Tödi gewesen zu sein. Worauf ihn auf dem nach ihm benannten Grat die Erleuchtung heimsuchte, sein Auftrag sei, eine «Association» der Berg- und Gletscherfahrer zu gründen.
Nun stehen auf einem Passübergang zwischen der Clariden- und der Fridolinshütte 16 literaturinteressierte Bergwanderer und -wanderinnen, genau gegenüber dem gewaltigen Bergklotz, und lauschen seinen Geschichten und Gedichten, den Dramen und Glücksmomenten, die diesen seltsamen «Berg der Dichter» prägen, genauso wie seine brüchigen Wände, seine schmelzenden Gletscher und der rote Gürtel aus Rötidolomit, die ihn umgürtet.
Nebel fällt, im steilen Abstieg nach Obersand ein Fehltritt, eine Fussverletzung. Kein Handyempfang, kein Flugwetter für Helikopter. So schreibt eine der kleinen Geschichten, die sich immer wieder ereignen an einem so grossen Berg, seine Geschichte weiter bis ins Irgendwann. Vielleicht zerfällt er einmal ganz, nach tausend weiteren kleinen und grösseren Dramen, vielleicht vergletschert er doch wieder, wider alle Erwartung. Was wissen wir schon von den Bergen, von ihrem Wesen und Wirken?
Unser Wissen ist das Gestern. Kaum ein Berg kann ein solches Brevier an literarischen Namen vorweisen, die sich nach ihm gesehnt, ihn bestiegen, ihn gehasst, sich an ihm die Zähne ausgebissen haben.
Während die Rettungskolonne ihre Arbeit verrichtet, sitzt die etwas reduzierte Literaturwandergruppe in der alten Fridolinshütte um den Tisch, lauscht dem dramatischen Text Hans Morgenthalers, sieht ihn beinahe leibhaftig die Tür aufstossen und hereinpoltern mit erfrorenen Fingern, so glashart wie Porzellan. Literatur am Tatort Tödi. Draussen fällt Regen, im Ofen brennt ein kleines Feuer.
Am folgenden Tag dann vor der Grünhornhütte, kurz vor Sonnenaufgang unter wolkenlosem Himmel, gelingt es mir nicht, den Text vorzutragen, der an meinen Vater erinnert, mit dem ich auf diesen Steinen sass, vor über fünfzig Jahren, und der vom Tödi träumte bis zu seinem Tod. So verbindet jeden seine eigene Geschichte mit dem grossen Ganzen, sei sie nun geschrieben oder erzählt oder nur erinnert.
«Tödi, Berg der Dichter» war eine Spontanidee, auf einer Wanderung mit Gabi Aschwanden, Wanderleiterin und Wartin der Fridolinshütte. Der Ruf wurde gehört, Wetter und Schicksal spielten mit, gut und böse, wie es halt so ist. Der verletzten Teilnehmerin wünschen wir beste Besserung, der Rettungskolonne sei Dank, ebenso Gabi und ihrem tollen Team von der Hütte. Und allen, die mitgewandert sind und mitgehört haben während der dreitägigen Wanderlesung, bei der auch, um mit Nietzsche zu enden, «auch die Muskeln ein Fest feierten».

Weitere Angebote von Gabi Aschwanden: www.bergzyt.ch

Literatur zum Tödi:

Frisch, Max: Über die Alpen. In: NZZ, 13.8.1937. Oder: Max Frisch, Journalistische Arbeiten 1931-1919. prinzenstrasse, Doppelheft II, Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH, Hannover 2001
Inglin, Meinrad: Werner Amberg. Atlantis Verlag, Zürich 1949. Werkausgabe Inglin, Atlantis Verlag, Zürich 1981
Morgenthaler, Hans: Ihr Berge. Orell Füssli Verlag, Zürich 1916. Neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Edgar Schuler. Verlag Akademischer-Alpen-Club Zürich, Zürich 1996
Morgenthaler, Hans: In der Stadt. Die Beichte des Karl von Allmen. Herausgegeben von Otto Zinniker. Spaten Verlag, Grenchen 1950
Müller, Ivo: Pater Placidus Spescha 1752-1833. Ein Forscherleben im Rahmen der Zeitgeschichte. Desertina Verlag, Disentis 1974
Zopfi, Emil: Tödi, Sehnsucht und Traum. Bergmonografie, AS-Verlag, Zürich 2000
Zopfi, Emil: Schrot und Eis. Als Zürichs Landvolk gegen die Regierung Putschte. Limmat Verlag, Zürich 2005
Zopfi, Emil: Dichter am Berg. Alpine Literatur aus der Schweiz. AS-Verlag, Zürich 2009

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