Todsicherer Sport

Vor zwanzig Jahren gab es eine Schweizer Kletterzeitschrift «Ravage». Die kürzlich veröffentlichten Unfallzahlen haben mich erinnert, dass ich damals eine Kolumne geschrieben habe zum Thema. Scheint noch immer aktuell: Im Durchschnitt der letzten fünf Jahre gab es drei Tote bei Kletterunfällen in der Schweiz.

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Ist Klettern eigentlich noch gefährlich genug? Besorgt studieren wir die Unfallstatistik und stellen fest: Die Chance, in roten Socken und festem Schuhwerk auf einem Wanderweg auszurutschen und ins Leere zu stürzen, ist beträchtlich grösser als jene, in einer Felswand das Genick zu brechen. Wen der Todestrieb treibt, der packt erfolgreicher eine nasse Grashalde an als einen Überhang.

Natürlich wünsche ich niemandem den Tod, und ich bin auch der Meinung, fünf Klettertote im Jahr seien noch immer fünf zuviel. Selbstverständlich freue ich mich, dass sich das perfekte Material, die Bohrhaken, das Training und die verbesserte Technik in sinkenden Opferzahlen niederschlägt. Doch nun sind wir am Punkt angelangt, wo wir Sportkletterer kaum mehr von einem Risikosport sprechen können, es sei denn, wir deklarieren die Anfahrt auf der Autobahn und die Rennstrecke auf der Passstrasse bereits als Zustieg zur Wand. Von den fünf im vergangenen Jahr beim Klettern tödlich Verunfallten kamen zwei nicht einmal im Fels, sondern im Zu- oder Abstieg ums Leben.

Ich habe wahrlich andere Zeiten erlebt, sechzehn war ich, als auf meiner zweiten Klettertour auf den Glärnisch dem Tourenleiter ein Felsblock wegbrach, das Hanfseil zerschlug und ihn hundert Meter in die Tiefe schleuderte. Vier Jahre später stürzten zwei Freunde im Bockmattli zweihundert Meter im freien Fall auf die Alpweiden, ihr Rucksack blieb am Sicherungshaken in der Wand zurück. Das Grauen war damals ständiger Begleiter, vom Einstieg bis zu Gipfel; schrecklicher als die Todesangst an den wackligen Standhaken waren nur noch die Alpträume vor der grossen Tour. Nein, ich sehne jene Zeit nicht zurück, allzu oft traf sich die Klettergemeinde am Mittwoch auf dem Friedhof, gerade recht, um sich fürs Wochenende wieder zu verabreden. Denn ein Grundsatz war: Sofort wieder klettern! Auch nach einem furchtbaren Unglück am Matterhorn, ein Toter, eine Schwerverletzte, sah uns das nächste Wochenende wieder am Berg. Wir kletterten dem Schrecken davon.

Jetzt, als Oldie, freue ich mich, dass Sportklettern eine fast todsichere Freizeitbeschäftigung geworden ist, ein Sport, der am Leben erhält und so sicher ist, dass keine Mama mehr etwas gegen Kinderbergsteigen oder Klettern als Schulsport einzuwenden hat. Wogegen man bei rund fünfzig tödlich verunfallten Wanderern im Jahr eigentlich ein Verbot für Schulwandertage erlassen müsste. Von Skitouren mit nochmals zwanzig bis dreissig Todesopfern ganz zu schweigen.

Trotzdem meine ich: Ohne die Todesgefahr hätte nie jemand Hand an einen Fels gelegt. Wozu auch? Die Gefahr erzeugt Angst, und nur die Angst lässt uns unsere Kraft spüren, wenn es uns gelingt, sie zu meistern. Im Alltag, wo uns tausend verdrängte Ängste belauern, schaffen wir das bekanntlich nie. Im Fels dagegen fast immer. Das Klicken des Hakens nach dem haarstäubenden Runout ist die Befreiung, auf die wir im Büro und am Computerschirm vergeblich warten. Gäbe es in der Wand keine Todesangst, so wäre sie so banal wie das Leben selbst, kein Grund also, sich die Gelenke zu zerreissen. Stets klettern wir also das Topo der eigenen Angst.

Wieviel Opfer braucht also der Berg? Fünf oder fünfzig? Die Frage ist falsch gestellt. Klettern ist ein sicherer Sport geworden, weil sich die meisten Kletterer der Gefahr stets bewusst waren, man blickte ihr ja ständig ins Gesicht. Darum haben wir Kletterer den zähen Lebenswillen entwickelt, der uns in die Wände treibt, aber auch wieder zurück ins Tal. Wir sind Spezialisten im Meistern gefährlicher Situationen oder, wie der Psychologe sagen würde, im Umgang mit unseren Grenzen. Lebenstrieb treibt uns, nicht Todestrieb. Das Sprichwort: «Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um», stimmt eben nicht. Das Gegenteil ist wahr. Die fünfzig Wanderer, die jährlich im Gebirge sterben, haben sich nicht bewusst in Gefahr begeben. Sie sind in der Meinung aufgebrochen, einer durch und durch harmlosen Tätigkeit nachzugehen. Und dann einfach ausgerutscht auf dem nassen Gras. Ähnlich wie die tausend Menschen, die jedes Jahr im Verkehr sterben, ohne sich bewusst zu sein, wie gefährlich die Strasse eigentlich ist.

Vielleicht können wir die Erkenntnis aus der Wand in den Alltag mitnehmen, dass das bewusst gewählte Risiko weniger gefährlich ist als die trügerische Sicherheit. Die Lebensversicherung verhindert keine Katastrophe. Nur wer sich in Gefahr begibt, überlebt.

(Foto Rega)

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