Endlich wieder einmal Hiebeler lesen! Wie einst, als er der grösste, schnoddrigste, umstrittenste und bewundertste deutschsprachige Alpinautor war und seine Zeitschrift «Alpinismus» eine Art «Playboy» der extremen Kletterszene.
Die Worte sind im aufkommenden Sturm kaum zu hören, aber die Poldi kommt nach. Ihre Löckchen sind im Regen aufgegangen, und ihre Haare hängen ihr wild ins Gesicht . . .
Wir queren nach links und bleiben unter einem großen Überhang stehen.
«Mensch, Poldi, des ist der Rossiüberhang, den kenn’ i von Bildern!» «Also, dann stimmt’s doch, dass wir einen Verhauer gemacht haben!» «Warum?» «Wegen dem Seilquergang, der kommt vor dem Rossiüberhang!» «Ist mir egal, des ist der Rossiüberhang, und über den müssen wir weg, Punktum!» . . .
Die Kraft des Sturmes hat zugenommen, und der Regen prasselt noch stärker auf uns . . . Jetzt nur durch, drängt es in mir, durch müssen wir, denn wir sind vollkommen durchnässt . . .
«Gott sei Dank, dass der Regen aufhört!», rufe ich hinab zur Poldi, als ich mitten im Überhang hänge.
«Ich glaub’, du träumst wohl?», sagt die Poldi wütend, und das wundert mich, denn ich spüre keinen Tropfen mehr. Dann wende ich mein Gesicht nach außen. Da schaut es anders aus – da draußen regnet’s in Kübeln! . . .
«Nachkommen!»
«Zieh die Seile ein!»
«Lass sie halt nach!»
«Sie sind doch locker!»
«Lass sie gut nach!»
«Ja, sie sind ganz locker!»
Obwohl die Seile von Poldi geschlenkert werden, kann ich sie keinen Zentimeter einziehen. Sie sind bocksteif und haben durch die eingehängten Karabiner zu große Reibung . . .
Der Sturm scheint ein Orkan zu werden, und der Regen verwandelt sich mitunter zu Hagel.
Ich sitze über dem Überhang, und Poldi steht drunter, und zwischen uns ist der Überhang, die Seile und viel Luft. Die Seile lassen sich immer noch nicht einziehen, und das Unwetter tobt in seiner ganzen Gewalt . . .
So schaut also eine Falle aus! Da haben wir den Dreck! . . .
«Hii . . lf . . ee!»
Herrgott, habe ich da nicht einen Hilferuf gehört? Unmöglich bei dem Sturm, denke ich . . .
Was tun? Was sollen wir tun?
Ich klettere den Überhang ein Stück ab und hänge einen Karabiner aus.
Endlich lässt sich das Seil einziehen. Aber ganz schwer geht es nur, so dass ich der Poldi unmöglich Zug geben könnte.
Dann schlage ich einen guten Haken und seile mich zur Poldi ab.
«Hast g’hört?», fragt die Poldi.
«Was?»
«Hast nicht den Hilferuf g’hört?»
«Ja, mir war’s auch so, als hätt’ i was g’hört! . . .
«Hiii . . lfe . e . e!» . . .
Jetzt hören wir es ganz deutlich – es ist ein verzweifeltes Hilfeschreien. Immer häufiger hören wir es. Es hört sich furchtbar an und geht durch Mark und Bein.
Das müssen die Vier von der Ostwand sein, denke ich . . .
Für uns gibt es nur noch eine Parole, und die heißt: Zurück! . . .
Aber dieses Zurück ist ein schweres Wort für uns – wir sehen im Nebel keine zehn Meter, und wir können nur hoffen, dass die Seilenden zu einem Stand hinabreichen.
Ich rutsche ruckartig an den Seilen hinab und – finde nach dreißig Meter einen winzigen Stand mit einem Bombenhaken, wie wenn der Klettergott alles extra für uns hergerichtet hätte . . . Weiter, weiter – nur hinab und hinaus aus dieser Wand.
Stark, nicht wahr? Dramatisch, aber realistisch und nicht schwülstig. Immer noch gut lesbar, auch 52 Jahre nach der Publikation. Ein Ausschnitt aus dem Erstling von Toni Hiebeler: „Abenteuer Berg“. Schlicht und zutreffend der Titel. So ist auch die Sprache: Man hängt mit Toni im Überhang in der Fleischbank-Südostwand, man fühlt die Nässe, die schwierige Situation. Nur dann, als nicht alle vier Kletterer, die in der Dülferroute in Bergnot geraten sind, das Abenteuer heil überstehen, ändert sich der Ton, wird pathetisch und gewöhnlich zugleich. Fast so, wie wir bei einem Todesfall auch Mühe mit der Sprache haben und irgendwie förmlich werden.
1967 legte Toni Hiebeler, inzwischen bekannt geworden als Wintererstdurchsteiger der Eigernordwand und Redaktor der von ihm gegründeten Zeitschrift „Alpinismus“, ein weiteres autobiografisches Buch vor: „Zwischen Himmel und Hölle“. Nochmals dieser leicht schnoddrige Ton, der den Staub auf der damaligen deutschen Bergliteratur gehörig wegpustete.
Diese beiden Bücher von Hiebeler, sowie all die andern, die er schrieb (über die Eigernordwand zum Beispiel), sind längst vergriffen. Nun hat Horst Höfler in der Reihe „Bergabenteuer“ des AS Verlages einen Band über Toni Hiebeler herausgegeben, worin neben 160 ein- und vierfarbigen Abbildungen vor allem Auszüge aus „Abenteuer Berg“ und „Zwischen Himmel und Hölle“ zu finden sind. Eine (Wieder-)Entdeckung! Auch für solche, die mit dem Bergsteigen nix an der Mütze haben.
Höfler, Horst: Toni Hiebeler – kreativ, kritisch, visionär. AS Verlag, Zürich 2009, Reihe Bergabenteuer, Fr. 45.-