Transgression und Regression

Wenn es im Herbst still wird im Gebirge, dann wird es auch manchmal zeitlos und im Vakuum durch das man schreitet, erlebt man Unerwartetes. So geschah es mir letztens, im Oktober, als mir die Landschaft in einem Rollenspiel vom Atem der Äonen erzählte.

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Die Erdgeschichte atmet rhythmisch. Eine ihrer Atmungen ist die von Transgression und Regression, von Meeresvorstoss und Meeresrückzug. Was im Pendel zwischen Ozean und Hochgebirge einmal war, das ist uns in den Gesteinen und ihrem Verschwinden als eine lange Folge von Landuntergang und Trockenfallen, von Sedimentation und Erosion überliefert.

Tief am Grund eines Meeres war ich am frühen Abend beinahe blind über das Relief des alten Landes gezogen und endlich, als die kaum zehn Meter reichende Sicht allmählich im Nachtdunkel verschwand, an die Hüttentür gekommen und durch sie hindurch in die von warmem Licht erhellte Stube getreten. „Gefunden?“, war das Wort, mit dem man mich, den einzigen Gast, begrüsste.

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 Am nächsten Morgen erwachte ich und war wie an ein fremdes Ufer gespült. Die Hütte stand nun nahe der Kante eines Steilufers und am Fjord einer nordischen Insel, deren grüngewandete Lofoten-Berge nach der Dämmerung unter einem hellrosa Himmel bleich waren, von Reif überzogen. Das nahe Meer lag still, als ich durch die steifen Halme des gefrorenen Grases schritt. Es dauerte nicht lange bis ich merkte, dass das Meer um mich im Steigen begriffen war. Langsam aber stetig. Über eine schmale, mir wohlbekannte Landbrücke, flossen die Wasser in rhythmischem Wechsel mal von der Glarner auf die St. Galler Seite und dann wieder von der St. Galler auf die Glarner Seite. Später schritt ich einen Strand entlang und die Vormittagssonne wärmte mich zart. Die Wellen rollten heran und flossen wieder ab, jedes Mal ein Stück weiter herauf und etwas weniger weit zurück. Überrollte mich einmal eine von ihnen, so spürte ich die Kälte des Wassers im Gesicht, auf den Händen, in der Lunge. Sie hing auch danach noch lange in Perlen an meinen Haarsträhnen, die unter der Mütze hervorschauten.

 An den Gratfelsen, auf die ich mich um die Mittagszeit geflüchtet hatte, schlug die Gischt der Brandung in Fontänen empor. Auf dem höchsten dieser Felsen, nahezu kahl und in meiner um Jahrmillionen veralteten Karte fast zweitausendfünfhundert Meter über dem Meer, hatte ich noch die Vision, auf Rockall gestrandet zu sein. Dann verschwanden der blaue Himmel und mit ihm die vertrauten Gipfel ringsum in einem hin und her schaukelnden, lichtdurchfluteten Nebel. Während ich wartete, eine Dreiviertelstunde vergeblich, wurde das Licht stets matter, das Schaukeln weniger, das Klackern der vor- und zurückrollenden Steinchen und Muscheltrümmer am Grund immer leiser. Bis schliesslich, wo die Brandung sich einst an Felsen brach und Landbrücken mal von dieser, mal von jener Seite überspült wurden, vollständige Stille war, und auch ich begreifen musste: Das Land ist wieder untergegangen. Und erneut ging ich bis zum Abend tastend und in eine enge Taucherglocke aus wenigen Metern Sicht gehüllt, über den Grund, über eine vollkommen unbekannte Topographie.

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So ging es letztens, im Oktober, Tag für Tag, Nacht für Nacht. In meinem, aus dem Sommer so bekannten Gebirge, folgten nun in ewigem Wechsel auf Transgression Regression und wieder Transgression…

…des Nebelmeers.

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