Wandern ist Balsam für die Seele, und frische Luft ist Nahrung für die Gedanken. Wer sich auf den Weg macht, dem eröffnen sich neue Erkenntnisse. © Annette Frommherz
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Es war eines Abends im Jahre 1780, als Goethe diese Worte mit Bleistift an die Wand einer Jagdhütte schrieb. Heute, 231 Jahre später, würde er das nicht mehr tun. Er wüsste, dass seine Schreibereien leicht als öffentliches Ärgernis bezeichnet werden könnten und er dafür und für Sachbeschädigung bestraft würde. Es könnte zwar sein, dass er ungestraft davonkäme, weil sein schwarzer Kapuzenpulli sich der Farbe der Nacht anpasst. Aber inzwischen sind auch an abgelegenen Stellen Überwachungskameras installiert, und Goethe hätte mit Bestimmtheit DNA-Spuren hinterlassen, so dass die Chance heute gross wäre, ihn überführen zu können.
Goethe hatte es seinerzeit gut: er brauchte sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Immerhin benutzte er damals keine Spraydose, sondern einen Bleistift. Es war übrigens nicht jugendlicher Übermut, den ihn zur Tat drängte; zu dieser Zeit war Goethe bereits 31 Jahre alt. Ich bin mir sicher, er ahnte nicht, welchen Wert seine Kritzelei auf der Hüttenwand für die Nachwelt haben könnte.
Solches und anderes dachte ich, als wir Richtung Plättlispitz unterwegs waren. Ich sinnierte über das Leben an sich und über meines im Speziellen. Und später eben über das von Johann Wolfgang von Goethe, diesem Dichtergenie, diesem unglaublich vielfältigen Künstler, dessen Gesamtwerk unvergleichbar bleibt.
Auf dem Gipfel war Ruh’. Wir schienen die einzigen zu sein, die den vorweihnächtlichen Sonntagsverkauf verschmähten. Wir drehten uns um die eigene Achse und schauten erst zum Säntis, dann vom Mattstock zu den Churfirsten, und kontrollierten auch, ob der Mürtschenstock noch immer dort steht, wo er hingehört. Die Vöglein in den Wipfeln schwiegen. Es war, als würde der Sonntag ungeschoren davonkommen. Wir spürten kaum einen Hauch von Sehnsucht, wieder in den Nebel zu tauchen. Ich wartete, wollte aber nicht lange ruhen. Verstohlen suchte ich unten auf der Alp die Hüttenwand nach Zeilen ab, die mit Bleistift geschrieben worden waren. Ich fand keine.