Über die Mythen

Gras- und Wurzelklettern ist eine besondere Disziplin. Die Überschreitung der Mythen wird zum Flashback in die Kindheit. Mit dem obligaten Mythen-Gipfel-Nussgipfel als Gipfel des Glücks.

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Vier Gipfel sind es, die wir überschreiten an diesem Tag. Dabei meint man doch, die Mythen hätten nur zwei: den Grossen und den Kleinen. So ist das halt in den Bergen, die Wahrheit zeigt sich oft erst vor Ort. Auch bei den Churfirsten ist es so. Alle Welt spricht von sieben, doch zählt man nach, so sind es wesentlich mehr. Aber lassen wir das, der Morgen ist kühl, die Sonne filtert durch Nebelfetzen, der Wetterbericht ist ausnahmsweise gut, das Gras noch nass. Das gibt zu denken. Einsteigen oder warten bis die Sonne die Flanken trocknet? Wir reden über Politik, mein Freund und Begleiter und Fotograf Marco. Und unversehens sind wir schon im steilen Gelände, wo sich Gras und Felsstufen mischen, heikel halt, aber ich trage meine neuen Bergschuhe, blau und extra für die Mythen gekauft. Vor zwei Jahren. Ja, es gibt Projekte, die schiebt man so vor sich her. Mal ist es zu heiss, mal zu kalt, mal zu nass oder dann hat man anderes vor oder der Freund keine Zeit. Was immer. Zu nass ist es ohnehin in diesem Sommer, trocknen wird das die Sonne nicht mehr an diesem Tag. Also klettern wir, schön vorsichtig Schritt um Schritt den Nordgrat des Haggenspitz hoch. Mein Freund warnt vor losem Gestein, also noch vorsichtiger als vorsichtig, vorbei an neuen Stand- und Zwischenhaken. Wir suchen das Müllerkamin, das möchten wir fotografieren (fürs Mythenbuch). Vielleicht sind wir ja schon vorbei? Haben es rechts liegenlassen, sind zu weit links geraten – etwa wegen der politischen Gespräche zuvor? Weiter also, zurücksteigen macht keinen Sinn. Höher oben finden wir dann doch den Kamin, etwas rechts der Kante hiner einem Felszacken. Benannt ist er nach Hugo Müller, Arzt in Wohlen und Verfasser des ersten Mythenführers, ein Bjou unter den Berg- und Kletterführern, wie man sie heute nicht mehr findet. Müller hat viel Erschliessungsarbeit geleistet an den Mythen und am Salbitschijen, wo es auch ein Müllerkamin gibt, am Salbitzahn. Jeder, der den Salbit-Süd klettert, stemmt sich darin hoch. Hier dagegen ist es eine eher zahme Sache, ein Griff über einen Klemmblock, schon vorbei. Halt, Fototermin, ein bisschen posieren und Blick in die Tiefe, ich bin doch froh, haben wir für die paar Meter das Seil ausgepackt, es ist ja alles etwas abgespeckt und die Profilsohlen sind nass und dreckig.
Bald schon der Gipfel des Haggenspitzes, ein High-Tech-Gipfelkreuz mit High-Tech-Gipfelbuchbüchse. Einschreiben bitte. Weit fällt das Auge ins Land, hätte man wohl früher geschrieben, aber das Auge fällt ja nicht und schon gar nicht weit. Einsiedeln, Rothenthurm, Schwyz. Schlachtfelder von einst, mal gegen die Franzosen, mal gegen das eigene Militär, welches das Hochmoor zum Waffenplatz ausbauen wollte. Und einmal, im Zweiten Weltkrieg, da marschierte eine ganze Division auf, auch Eidgenossen, gegen Schwarzschnapsbrenner von Steinen Schwyz. Der so genannte Steiner Aufstand. Wir befinden uns also im Herz der Schweiz und der Schweizergeschichte. Und noch eine schwarze Geschichte: Ich zeige Marco die kleine Kapelle tief unten bei der Haggenegg, wo die Einsiedler Patres in der Franzosenzeit ihre Schwarze Madonna vergruben. Unter den Benediktinern gab es auch tüchtige Kletterer, und einer von ihnen stürzte zwischen Haggenspitz und Kleinem Mythen in ein Couloir hinab zu Tode.
Auf dem Gipfel des Kleinen sitzt ein einsamer Mann in der Sonne, grüsst, wünscht guten Abstieg. Weiter geht es über einen Zackengrat und dann auf einen Gipfel ohne Kreuz, das gibt es tatsächlich noch, aber eine Tafel ist doch angeschraubt und weist ihn als Vorgipfel aus. Bis hier führt ein Wanderweg. Weiter unten erkundigt sich ein in die Jahre gekommener Herr, wie weit es noch sei und ob man Seil brauche und ob er das mit seinen Enkeln noch wagen könne, früher sei er oft oben gewesen, und gibt uns dann Grüsse mit an seine Frau, die weiter unten im Schatten eine Wäldchens wartet.
Dann, nach Zwüschet Mythen, wiederum mit Kreuz, folgt die Kreuzplangge, im Volksmund Affengarten genannt. Bald wissen wir auch, warum. Wir finden einen Ballon, der von Münsingen hergeflogen ist, und die Besitzerin wird, wie ich später erfahre, dank unserem Fund ein Nachtessen gewinnen. Nun ist aber noch nichts mit essen, es geht sehr steil eine Grasrinne mit Felsstufen hoch, in irgend einem Bericht stand was von 60 Grad steilem Gras, und man fühlt sich auch fast wie in einer Eiswand, nur eben in Grün, aber auch schön glitschig und nass. Stufen hacken muss man nicht, obwohl mein Freund vorsichtshalber einen Eispickel mitgenommen hat. Er findet mit seiner Spürnase immer wieder die ideale Linie, wo es schon gute Tritte gibt, als Griff meist Grasbüschel, vielleicht auch mal eine Felskante, oder dann krallt man sich mit den Fingernägeln in den schwarzen Dreck. Willy auf der Maur, einer der besten Mythenkenner, hat mal in einem Text ausführlich über das Mythengras geschrieben, das stärker sei als gewöhnliches Gras, sozusagen Variante extra stark fürs Klettern in diesem coupierten Gelände. Er schreibt, es gebe sogar Gras-Untergriffe, und einmal sehe ich wirklich so eine untergriffige Grasschuppe, verzichte aber auf den Versuch, sie zu testen. Weiter oben folgen dann kleine Föhren und Tännchen, die oft Griff bieten, man zieht sich an Ästen und Wurzeln hoch, wie Affen eben. Dafür fühlt man sich etwas geborgen in diesem steilen Gehölz. Mir war ziemlich bang vor dieser eigenartigen Kletterei, dazu noch bei feuchten Verhältnissen, bekomme aber immer mehr Spass daran, falle geradezu ein eine Art Trance. Ein Flashback, wie wir vermuten, ein Gefühl wie in der Kindheit, in der ich mich im Zürcher Oberland so manchen Steilhang eines Tobels an Wurzeln und Grasbüscheln hochgerauft habe. Zurück zu den Wurzeln im wahren Sinn des Wortes.
Zwischendurch mal eine Felsplatte mit kleinen Griffen und Tritten. Dann sind wir auf der Mythenmatt, folgen dem Rotgrätli, das ich schon kenne, und sind auf dem Gipfel, wo Leute im Nebel ein bisschen schlotternd an den Tischen sitzen und uns seltsam anschauen. Wo kommen denn die her? Die beiden Veteranen vom Hunderterclub sind da, Peter Gujer, der Mythenpöstler, und Armin Schelbert, der Kaffee und Nussgipfel ausgibt. Ich bestelle einen Kaffe mit Zwetschgenwasser, so glücklich bin ich über die gelungene Mythenüberschreitung. Das heisst, sie ist ja noch nicht zu Ende, aber den Abstieg über den Mythenweg werden wir wohl schaffen obwohl – auch da hat es schon Tote gegeben. Wir haben Spass gehabt, aber harmlos war die Tour gewiss nicht. Harmlos sind die Dohlen, die mir partout die Nussgipfel wegpicken wollen. Ich verscheuche sie und mein Begleiter fotografiert.
(Fotos © Marco Volken)

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