Zu Fuss oder im Renault. Durch die Schweiz oder durch Frankreich. Ein neues Zeitalter der Romantik scheint angebrochen. Die blaue Blume der Sehnsucht treibt die Schreibenden über alle Hügel und Pässe und Gipfel bis ans Ende der Welt – oder wenigstens des Landes. Drei Werke zum mitwandern oder nachwandern, dreisprachig rezensiert und zitiert.
„And finally Zermatt, the Wailing Wall of mountaineering, with its Whympers’s Rope. I looked around me. Everywhere there are people going in and out of shops, garish posters, display windows, mannequins, stuff. Why, this is a bazaar, a souk of Western consumerism. And, towering above it all, attracting all regards, is this visitor from another continent, commanding respect and attention. The Matterhorn is, in fact, Europe’s minaret.“
Mutige Vergleiche, die der kanadische Historiker und Journalist Stephen O’Shea da in „The Alps. A Human History from Hannibal to Heidi and Beyond” zieht. Zermatt als Klagemauer des Bergsteigens, das Matterhorn als das Minarett Europas – was geologisch ja auch stimmt, weil es zur afrikanischen Platte gehört und so ein Besucher von einem anderen Kontinent ist. Gekonnt auf den Punkt gebracht: Das schafft O’Shea in seinem jüngsten Buch immer wieder. Zum Beispiel auch hier: „If Rousseau and Mary Shelley made the Alps titillating and Romantic, then the film version auf Ian Fleming’s character made them sexy. Of the twenty-four Bond movies, fully a third, by my count, have used the Alps as a location, as an accessory to danger and seduction.” Jean-Jacques und James sozusagen in die gleiche Seilschaft einknoten, da muss man den Alpenbogen und seine Geschichte(n) schon ziemlich gut kennen. Stephen O’Shea ist 2014 mit Hintergrundwissen, Notizbuch und Renault Mégane von Genf aus kreuz und quer durch die Alpen gekurvt, ohne allerdings ihren südlichen Teil zu besuchen. Was insofern schade ist, als gerade ein so mythischer Gipfel wie der Mont Ventoux ihn bestimmt zu rassigem Kurvenfahren und ebensolchen Gedankengängen verholfen hätte. Sein Buch, das im November auch auf Deutsch erscheint, ist oft amüsant und unterhaltend, manchmal auch böse und sarkastisch. Zuweilen verbremst er sich – vielleicht hätte Stephen O’Shea mehr zu Fuss gehen müssen…
Genau das machten Regula Jaeger und Markus Maeder, als sie „von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz“ gingen und diese Reise im Buch „Fussgang“ für uns (und sicher auch für sich) aufschrieben. Ein schöner Titel, ein frecher Untertitel und ein mutiges Cover (Regula nimmt, von Markus fotografiert, ein Nacktbad in einer Kuhtränke beim Aufstieg zur Rotstockhütte im Lauterbrunnental): Verlockend, nicht wahr? Vielleicht weniger das Bad als die Aussicht, von zu Hause aus aufzubrechen und ein klares Ziel vor Augen zu haben: Wenn nicht das Ende der Welt, so doch das Ende der Schweiz – Genf nämlich. In einem Tagebuch hält das Paar in Texten und Bildern fest, was es auf seiner Weitwanderung mit Start in Rapperswil am Zürichsee in 49 Etappen und in vier Jahreszeiten erlebt hat. Und wir Leser dürfen mitwandern und mitessen, mitreden und mitfrieren, mitsehen und mitjuchzen, miteinschlafen und am nächsten Morgen wieder mitgehen, Schritt für Schritt und Gang für Gang. Wir lernen auf dieser Mischung aus Via Jacobi und Via alpina ein Land kennen, wie wir es zu kennen glauben und wahrscheinlich doch nicht kennen. Die zwei nicht mehr ganz jungen, aber jugendlich gebliebenen Fussgänger zeigen uns mit Text und Bild, anschaulich und anmutig, gwundrig und gluschtig, hintergründig und hautnah eine etwas andere Schweiz.
Über alle Höger, Hügel und Hindernisse ist auch Sylvain Tesson gewandert, vom August bis November 2015. Quer durch Frankreich, von der rechten unteren Ecke bis in die mittlere Ecke oben links, von Tende im Hinterland von Nizza bis zum Cap de la Hague zuvorderst auf der Contentin-Halbinsel. Wenn möglich nicht auf sauber rot-weiss markierten Sentiers de Grande Randonnée, den berühmten Weitwanderwegen, sondern auf chemins noirs, wie Tesson die aufgegebenen, nicht mehr benutzten Wege bezeichnet, „auf versunkenen Wegen“, wie der deutsche Titel des Buches lautet. „Bisher las man Tesson, um in die Ferne zu schweifen. Jetzt kann man mit ihm die eigene Heimat erkunden“, lobte der „Paris Match“. Nun, als Führer zum Nachwandern taugt der jüngste Tesson im Gegensatz zum „Fussgang“ nicht wirklich, doch zum Lesen natürlich bestens, auf einer Frankreichreise oder zuhause auf dem Sofa. Und immer wieder gelingen Tesson gekonnte Formulierungen. Er fand auf seinem monatelangen Quergang die „géographie du non-lieu“ und die „cartographie du temps perdu“. Und auf dem Weg zum Mont Ventoux, entlang von gross angelegten Feldern gehend, wo einzig die Hangars der riesigen Traktoren für optische Abwechslung sorgen, frappiert ihn das: „La mondialisation avait ouvert son marché frankensteinien.“
Stephen O’Shea: The Alps. A Human History from Hannibal to Heidi and Beyond. Norton & Co., New York 2017, Fr. 37.90.
Die Alpen. Von Hannibal bis Heidi. Geschichten, Mythen und Legenden. Goldmann Taschenbuch (erscheint am 20. November 2017), Fr. 19.50.
Markus Maeder, Regula Jaeger: Fussgang. Von zu Hause über alle Berge bis ans Ende der Schweiz. NZZ Libro, Zürich 2017, Fr. 44.-
Sylvain Tesson: Sur les chemins noirs. Gallimard, Paris 2016, € 15.-
Auf versunkenen Wegen. 1000 Kilometer zu Fuss durch Frankreich. Knaus Verlag, München 2017, Fr. 29.90.