Warum steigt ihr auf Berge? Dann noch solche, auf die eine Seilbahn gerade Hunderte von Ausflüglern befördert? Gewiss nicht wegen der Aussicht.
Irgendwann ist mir der Floh ins Ohr gesprungen: Zu Fuss auf den Säntis! Okay, im vergangenen Herbst sind wir von der Ebenalp hinaufgewandert, haben im Alten Säntis übernachtet und bewunderten vom Bett aus den Sonnenaufgang. Nun habe ich mir die Nordflanke vorgenommen, von der Schwägalp aus, erschreckend mächtig baut sich da der Berg auf vor einem, fast schon gar eine Eigernordwand, halt einfach Grashänge zwischen den Felsbändern statt Eisfelder, 1249 Höhenmeter. Ich bin an diesem kühlen schönen Spätsommermorgen nichtmal der Einzige, im Gegenteil. Wie ich da hinaufschaue sehe ich eine wahre Ameisenstrasse den Berg hochkrabbeln, hell klickern die Wanderstöcke durch den stillen Tag. Es geht ganz leicht, zu meinem Erstaunen, da ich letzthin nach einer Stunde Wanderung schon total erschöpft auf ein Bänklein sank. Doch irgendwie scheint der Berg zu rufen und ich überhole die ersten Wanderstöckler und dann weitere und bald wird’s zum Spiel. Überholen, «grüezi und merci», aber keinesfalls überholt werden. Die Blumenpracht in den Hängen, der Tiefblick aufs neue Hotel der Schwägalp und den weiten Parkplatz, die Kraxelstellen mit Drahtseilen und Eisendornen, alles wunderbar. Dass nebenan die Seilbahn Stöckelschuhtouristinnen und ihre Begleiter und Anhänge in die Höhe trägt, ist egal. Denn ich steige ja nicht für sie den Berg hoch, ich steige für mich, hier und jetzt und atme ganz leicht und nehme einen Schluck Züriwasser aus der Flasche. Es scheint, der Säntis habe einen Magnet eingebaut, der zieht. Auch die zwei Jungen, die mich ganz am Anfang rasend schnell überholt habe, überrannt beinahe, hole ich ein, und als sie beim Bergrestaurant Tierwies erschöpft auf die Terrasse sinken, tänzle ich vorbei und esse weiter oben nur einen Banane. Ja, vielleicht habe ich noch den Tango in den Beinen von gestern Abend und im Blut Traubenzucker wie jener 98-Jährige, der noch jede Woche auf die Rigi steigt, 800 Höhenmeter in 8 Stunden. Also gut, ich schaffe den Säntis in zweieinhalb.
Meine Tour ist übrigens auch eine Erinnerung an einen der grossen Bergsteiger der Ostschweiz, Seth Abderhalden, der am 20. November 1960 auf diesem Weg in einer Lawine ums Leben gekommen ist. Halte Ausschau ob da jemand vielleicht ein Täfelchen montiert hat, aber ich finde keines. Nur von einer Frau vernehme ich im Vorbeigehen, dass ein Bekannter im Winter hier heraufgestiegen sei, mit Pickel und Steigeisen, und da und dort sehe ich einen Bohrhaken, der offenbar den Winterbergsteigern als Sicherung dient. (Kurze Erinnerung an den Südwestpfeiler des Grossen Drusenturms, eine Route von Seth und Peter Diener, etwas vom Schrecklichsten, was ich je geklettert bin in meiner extremem Jugendzeit. Schwer und brüchig gefährlich und nur dank meinem furchtlosen genialen Kletterfreund Hansruedi habe ich die Tour überlebt.)
Leute kommen mir entgegen, die mit der Seilbahn hochgegondelt sind und nun auf dem Weg absteigen – auch das gibt es. Eine Frau fragt, ob man bestraft würde, wenn man ein Edelweiss pflückt. Ich kann sie beruhigen, aber sie hat ja gar keines. Dann eine Familie mit einem Kind, das mir nicht grösser vorkommt als meine Enkelin, die gerade Laufen gelernt hat.
Bei der Himmelsleiter, die ich vom vergangenen Herbst kenne, ist mir ein Paar mit Hund auf den Fersen, doch kann ich sie noch abhängen, denn die Eisenstufen und Stifte und Drahtseile findet der Hund offenbar gar nicht so himmlisch.
Dann sitze auf der Terrasse des Alten Säntis bei Kaffee und Apfelkuchen. Und hetze gleich weiter, ein rüstiger Rentner ohne Wanderstöcke (ja, das gibt’s noch, eher selten zwar), über den Lisengrat zum Rotsteinpass und hinab nach Unterwasser. Eher langweilig talaus, zur Abwechslung stürzen mir im Morast einer Alp ein paar Schwein entgegen, zum Schluss noch militärischer Marsch auf Asphalt. Dann ein kurzer Abstecher zu den Thurfällen, «der Quelle aller Dinge», wie der Toggenburger Schriftsteller Peter Weber schreibt, der hier im Rauschen des Wassers Inspiration empfangen hat. Der rasende Rentner allerdings, ein Eile, das Postauto noch zu erreichen, verzichtet auf Inspiration und Meditation und knipst nur ein paar Föteli.