Überlebenskünstler

Überleben: ein Stichwort zu den letzten düsteren Wochen – und zu den nächsten. Ein reich illustrierter Bildband zeigt, wie es Pflanzen in den Alpen machen.

Us de Berge, liebi Fründi,
Schickst mer Alperösli zu;
Schribst derzu, si sige g’wachse
Aere hohe, wilde Flue.
Grüssist mi und seist mer no,
I söll o i d’Berge cho.

Nein! Erstens soll man während der Coronakrise zu Hause bleiben und nicht in die Berge fahren; ausser man wohne natürlich dort. Zweitens sollte man auch keine Bergblumen pflücken; wobei Alpenrosen ja nicht wirklich selten sind. Und überhaupt, liebi Bärgfründe: Was soll dieses holprige Gedicht von C. Wälti? Ich fand es in meinem Lieblings-Poesieband „Helvetiens Naturschönheiten“ von 1856; der Titel ist ein paar Zeilen länger. Das Gedicht von Wälti übrigens auch. Wie im Gedichtband noch andere Verse zu Alpenrosen zu finden sind, zum Beispiel diejenigen von A. Linden:

Holde Alpenrose
Dort auf hoher Firn,
Blühst an Felsenwänden,
Alpenflurgestirn!

Nur: Welche Alpenrosen die Poeten wohl meinen? Die Rostblättrige (Rhododendron ferrugineum) oder die Bewimperte (Rhododendron hirsutum)? Erstere kommt in den Schweizer Alpen häufiger vor als letztere, die vor allem in den Ostalpen anzutreffen ist. Treffen und kreuzen sich die beiden Alpenrosenarten, wird das Produkt Rhododendron intermedium genannt.

Rostblättrige und Bewimperte Alpenrose gehören zu den 50 aussergewöhnlichen Alpenpflanzen, die Thomas Schauer (Text) und Stefan Caspari (Zeichnungen und Fotos) im reich illustrierten Bildband „Überlebenskünstler“ porträtieren. Stürmische Winde, starke Sonneneinstrahlung, dicke Schneedecken, Wassermangel, extreme Temperaturschwankungen – Pflanzen müssen in den Bergen viel aushalten. Von Aurikel und Alpen-Mannschild über Gletscher-Hahnenfuss und Rundblättriges Täschelkraut bis zu Zirbe und Zwerg-Alpenrose (!) mit dem wissenschaftlichen Namen Rhodothamnus chamaecistus: Alle haben sie Strategien entwickelt, um unter harschen Bedingungen zu gedeihen. Mit behaarten oder fleischigen Blättern wappnen sie sich gegen Trockenheit, UV-absorbierende Pigmente setzen sie ein wie Sonnencrème und eine kompakte Bauweise schützt sie gegen Winde und Kälte. Und das Edelweiss? Ein Foto zeigt es mit dem Riffelhorn und Matterhorn im Hintergrund. Wenn ich das nächste Mal am Gornergrat unterwegs sein werde, muss ich die Stelle suchen. Aber pflücken werde ich keines, nur anschauen!

Bis wir wieder ungehindert zu den Bergblumen gehen können, studieren wir sie in diesem schönen Buch. Und lesen vielleicht noch das berühmte Gedicht „Die Alpen“ (1732) von Albrecht von Haller, der sich eingehend mit Botanik beschäftigt hat. Hier nur vier der 490 Verse:

Dort ragt das hohe Haupt am edlen Enziane
Weit übern niedern Chor der Pöbel-Kräuter hin;
Ein ganzes Blumen-Volk dient unter seiner Fahne,
Sein blauer Bruder selbst bückt sich und ehret ihn.

Thomas Schauer, Stefan Caspari: Überlebenskünstler. 50 außergewöhnliche Alpenpflanzen. Haupt Verlag, Bern 2019, Fr. 39.-

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