Die Schwerkraft ist eine Kraft, die schwer auf einem lasten kann. Das musste ich feststellen, als ich in der Wand hing mit allem Drum und Dran. © Annette Frommherz
Ich habe die Gesetze nicht gemacht. Die sind von anderen ins Leben gerufen oder erforscht worden, ich schwörs. Das Gesetz der Schwerkraft zum Beispiel. Wie ich da so hänge in meinem Klettergurt, im Überhang, geht mir dieses ungeschriebene Gesetz durch den Kopf, und auch, wie ich aus dieser misslichen Lage wohl wieder herauskomme. Er, der weiter oben noch schnell einen Stand bohren wollte, sagte, ich solle mich einfach mal abseilen, er komme später nach. Bis wohin denn, fragte ich noch. Einfach dem Seil entlang, sagte er, bis zum kleinen Absatz, in der Nähe des Tännchens, du weisst schon. Und, sagte er noch, als ich mein Abseilgerät schon im Seil eingehängt hatte und daran war, den am Karabiner befestigten schweren Rucksack zwischen die Beine zu klemmen: Übrigens hat es auf halber Strecke noch einen Express, aus dem du das Seil nimmst, und den Express hängst du aus.
Daran konnte ich mich gut erinnern, während ich mich abseilte, dem Seil entlang; wo denn sonst. Das Seil drängt sich ja nach der Schwerkraft, und ich nicht minder. So näherten wir uns, der Rucksack und ich, immer mehr dem schmalen Felsenband. Wohl denn, das Muotathal lag unten in einiger Entfernung friedlich im Schatten, und mir wurde immer wärmer. Den abgestorbenen Baum, der seine knorrigen Äste flehend in den Himmel streckte, sah ich zu spät, und kratzte mir die bleichen Waden auf. Mit den aufgekratzten Waden war ich so beschäftigt, dass ich nicht merkte, wie der Express klammheimlich seitlich an mir vorüberzog. Zu spät, als ich ihn sah. Wie sollte ich nun an ihn herankommen und das Seil aushängen.
Ich suchte nach den Hütern der Gesetze. Vergeblich. Neben dem Zivilgesetz und dem Obligationenrecht gibt es ja noch einige Gesetze mehr, die unser Land befehlen. Aber das wichtigste – in meiner momentanen Situation – war hier klar das Gesetz der Schwerkraft.
Hm, versuchte ich Logik in die Sache zu bringen, und dachte nach. Mein Kletterpartner hatte mir garantiert, dass unten das Seil befestigt sei oder, was er als weitere mögliche Variante vorgegeben hatte, im Mindesten ein Knoten am Seilende angebracht sei. Ich zog am Seil. Ich konnte das Ende sehen – weder festgemacht noch ein Knoten. Hm, dachte ich, jetzt gibt es zwei Varianten, denn der Klettergurt schnitt mir inzwischen unangenehm das Blut in den Adern ab. Die erste Variante: Du ziehst das Seil aus dem Express und seilst dich friedlich bis zum Absatz ab – vorausgesetzt, das Seil ist lange genug. Und der Express hängt oben eben weiter, wo er ist. Die zweite Variante: Du schreist nach oben. Ich wählte die zweite, sie war mir, ganz unheldenhaft, die einfachere. Bis mein Kletterpartner zur Stelle war, genoss ich baumelnd die Aussicht in der Morgensonne. Es war Montag. Die Woche stand unter einem guten Stern, wenn nicht gar unter einem guten Gesetz. Dem Gesetz der Nächstenliebe. Mein Kumpane erlöste mich vom Ungemach, zog den Express ein, und unten auf dem Absatz war ich dann gesetzlos einer 6a+-Route ausgesetzt. Da half kein Flehen, keine Ausrede und kein Augenklimpern. Da musste ich durch, also hinauf. Die mit Magnesium gekennzeichneten Stellen meines Gefährten sollten mir den Weg weisen, aber wegweisend war schlussendlich die Erkenntnis, dass eine 6a+-Route für unsereins als ungeeignet abgehakt werden kann. Ich kam hinauf, ich schwörs auch diesmal, aber nur mit dem Gesetz der Nächstenliebe, vielem Ach und Weh und mit gutem Zureden. Und mit meiner letzten Kraft.