Viertausender der Alpen

Was wären die Alpen, wenn man sie wie die britischen Pioniere in Fuss vermessen würde, statt in Metern? Es gäbe keine Viertausender, also keine Gipfelziele für die vielen Viertausender-Sammler und Viertausender-Skipioniere, unter andern auch ein Schotte. Und auch den schönen neu aufgelegten klassischen Fotoband gäbe es nicht, den unser Rezensent und Skialpinist hier vorstellt.

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„Um 2 Uhr mittags stehen wir auf dem Gipfel des Strahlhorns. Es ist der letzte Tag des Jahres, aber doch ist es warm wie im Sommer. Eine ganze Stunde lang liegen wir oben auf den Gipfelblöcken und trinken uns satt an der Aussicht. Kristallene Klarheit bis in die fernsten Fernen, Ruhe, Stille, Weite, Licht und Sonne. Oh, berauschendes Glück, das nur die höchsten Höhen geben!
Und abermals eine Stunde später stehen wir wiederum bei den treuen Brettern und prüfen Bindung und Riemenwerk.
Dann die wirbelnde, brausende, ins Ohr brüllende Abfahrt über fast hindernislose Hänge, in stets gleichmässig tiefem Schnee. Ekstase der Geschwindigkeit, der unendlich beseeligenden, raumüberwindenden Schwerkrafthönenden!“

Wer möchte da nicht mitlesen und mitfahren! Schon jetzt und bis in den Frühsommer hinein, bis der letzte befahrbare Schneeflecken geschmolzen sein wird. Henry Hoek (1878-1951), holländisch-deutscher und jahrelang in der Schweiz wohnhafter Skipionier und Schriftsteller, schwärmt in „Wanderungen und Wandlungen“ aus dem Jahre 1924 über die Skierstbesteigung des Strahlhorns am 31. Dezember 1901, die er mit dem Landsmann Ernst Schottelius sowie den Haslitaler Bergführern Alexander Tännler und Kaspar Moor unternahm. Nicht der einzige solche Erfolg an einem Viertausender der Alpen: Auch das Finsteraarhorn ging Hoek als erster erfolgreich an mit den zwei Brettern, die die Welt bedeuten.

Überhaupt wurden nach 1900 zahlreiche 4000er erstmals mit Hilfe der Ski bestiegen, nachdem man gemerkt und gelernt hatte, wie wunderbar der Abstieg als Abfahrt ist. Vorausgesetzt, der Schnee war so gut wie am Strahlhorn, und die Skifahrer ebenfalls. Für die Hälfte der 48 offiziellen Viertausender der Schweiz sind Ski jedenfalls sehr brauchbar – klar, nicht bei allen kann auf dem Gipfel in die Bindungen gestiegen werden wie am Strahlhorn. Hoek & Co. machten dies übrigens auch nicht, aber damals waren Material und vor allem die Kanten noch nicht so ausgefeilt wie heute.

Umso erstaunlicher ist es, dass die 14., vollständig überarbeite Auflage des Klassikers „Viertausender der Alpen“ das Skibergsteigen kaum berücksichtigt. Von den 256 Fotos zeigen gerade mal zwei Skialpinisten: am Nadelhorn und am Strahlhorn – immerhin das. Denn gerade das Strahlhorn (4190 m) ist doch so etwas wie der perfekte Skiberg, auch im Sommer. Ich erinnere mich noch gut, als ich in einem Juli vor vielen Jahren meine Ski einem Fussgänger hätte verkaufen können. Mein Vater und ich fuhren – fast so brausend wie weiland Henry mit seinen Gefährten – zurück gegen die Britanniahütte und liessen den skilosen Alpinisten stundenlang durch weichen Schnee stapfen.

Natürlich stehen in den Alpen auch 4000er, wo einem die Ski nur im Weg wären. Das wiederaufgelegte Buch, das der erste erfolgreiche Viertausendersammler, der Österreicher Karl Blodig, 1923 im Bergverlag Rother publiziert hat, gibt einen bildstarken Überblick über die Alpengipfel, deren Höhenkote mit der Zahl 4 beginnt. Jedoch werden nicht alle offiziellen 82 Viertausender einzeln vorgestellt, und die massgebende UIAA-Liste fehlt ebenfalls. So gelingt das Abhaken nur halbwegs. Dafür kann man sich umso mehr in die tollen Sommerbilder vertiefen.

Aber wie gesagt: Ein paar rassige Bilder von Skifahrern auf gleissenden Gletscherflächen, das hätte schon gepasst. Vielleicht hielten sich die Herausgeber von Blodigs Buch indirekt an die Haltung jenes Schotten, von dem Hoek in Zusammenhang mit der Strahlhorn-Tour von 1901 spricht, und zwar im Artikel „Zehn Winter mit Schiern in den Bergen“, abgedruckt in der „Zeitschrift des Deutschen und Österreichen Alpenvereins“ von 1909:

„Die Zahl der Hochturen, die durch Benutzung der langen Bretter bedeutend erleichtert werden, ist viel gröβer, als man beim ersten Augenschein glauben sollte. Reine Schituren, auf denen man nie den Schi abzulegen braucht, sind allerdings sehr sparsam gesät. Doch muβ man ja nicht durchaus auf dem Standpunkt des Schotten stehen, mit dem ich in Norwegen reiste und der allemal fünf Minuten unterhalb des Gipfels zurückblieb, weil leichte Felsen kamen, und dies so begründete: ‚I came for skiing, you see, and not for mountaineering.‘“

Wolfgang Pusch, Helmut Dumler, Willi P. Burkhardt: Viertausender Alpen. Bergverlag Rother, München 2014, Fr. 69.90.

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