Die dritte Ausgabe von «Les Sports Modernes» gibt Vollgas. Bitte anschnallen und Helm aufsetzen. Die Lesebrille ebenfalls.
«Genau ab der Türe dieses Hauses [‹Restaurant du Théâtre› beim Zytglogge in Bern] fuhren wir damals jeweils am Samstag, wenn es die Schneeverhältnisse erlaubten, mit Pierres rassigem Bignan-Sportwagen, durch ein Bergseil verbunden, im Höllentempo über die Kirchenfeldbrücke, so dass der Streusand Funken sprühte, dem Wochenende in Grindelwald oder Lauterbrunnen entgegen.»
An diese auffallende Verbindung von zwei schnellen sportlichen Fortbewegungsmitteln erinnerte sich Walter Amstutz im Kapitel «Die Skiwelt von gestern» im Jubiläumsjahrbuch «Der Schneehase» des Schweizerischen Akademischen Ski-Clubs von 1974. Im «Du Théâtre» hatte der aus Mürren stammende Amstutz zusammen mit zwei Freunden am 26. November 1924 den SAS gegründet. Fünf Jahre später wurde er zum ersten Kurdirektor von St. Moritz gewählt. Im Sommer 1929 fand die erste Internationale St. Moritzer Automobilwoche statt; ein Höhepunkt dabei war das Kilomètre lancé am 29. August 1929, ein Geschwindigkeitsrennen auf der schnurgeraden «Shellstrasse» zwischen Samedan und Prontresina. Bereits im Herbst dieses Jahres lancierte Amstutz die Arbeiten für eine steile Piste, die von der Bergstation der Corviglia-Standseilbahn ins Val Saluver hinabzieht. Dort fand am 14. Januar 1930 das erste Kilomètre lancé auf Ski statt. Der Innsbrucker Gustav Lantschner siegte mit 105,675 km/h und stellte damit den ersten Geschwindigkeitsrekord auf. «Eine phantastische Geschwindigkeit!» So das Jahrbuch des Schweizerischen Skiverbandes von 1930: «Wird sie noch überboten werden? Schon möglich. Tempo, Tempo, Tempo! Ist nicht so das Charakteristikum unserer Zeit?»
Was für eine Frage vor knapp hundert Jahren! Dem Tempo ist die dritte Ausgabe der sporthistorischen Publikation «Les Sport Modernes» gewidmet, nach den Bergen (mit Amstutz auf dem Cover) und der sportlichen Führungskraft. Die Geschwindigkeit ist, so schreiben Christophe Jaccoud und Laurent Tissot im Editorial, «ein zentraler Begriff, ja sogar mehr noch, ein Begriff, der im Herzen des Sports und der sportlichen Praxis selbst verankert ist. In einem ersten Sinne ist sie das absolute, unbestreitbare Kriterium für Leistung, und zwar in allen Sportarten. Eine prosaische Selbstverständlichkeit, die auf eine dem Sport eigene Form der Gerechtigkeit hinweist, die sich in der Formel verkörpert: Der oder die Schnellste gewinnt.» Doch die Geschwindigkeit geht darüber hinaus. Nochmals die beiden Herren, nochmals in Übersetzung: «In einem zweiten Sinne und in Sportarten, in denen die Zeiterfassung nicht das absolute Kriterium für die Leistung ist, stellt die Geschwindigkeit, gekoppelt mit der Präzision, den grundlegenden Parameter für eine gute sportliche Geste und ihre Wirksamkeit dar. Schliesslich wurzelt die eigentliche Logik der sportlichen Praxis in den hyperbolischen Werten der Selbst- und vor allem der Fremdüberwindung; die Sportkultur zahlt gewissermassen ihre Schuld an die Welt, in der sie entstanden ist: die Welt des Kapitalismus, der Produktivität und des allgemeinen Wettbewerbs.»
Alles klar? Nun aber mit Vollgas zu den 32 Beiträgen, darin sich acht dem Automobil(rennsport) widmen. Zum Beispiel der italienisch-schweizerischen Pilotin Luisa Rezzonico, die am 1. Oktober 1954 mit 21 Jahren während des ersten Autogiro d‘Italia auf der dritten Etappe von Napoli nach Bari mit 130 km/h an einer Mauer verstarb. Oder dem Verbot von Autorundstreckenrennen in der Schweiz. Der Skisport kurvt im Buch natürlich rassig mit. Grégory Quin bespielt die beiden Kilomètre lancé von St. Moritz und verknotet sie mit der Geschichte der Erstdurchsteigung der Eigernordwand (wenn Heckmair und Vörg nicht die langsameren Harrer und Kasparek im Schlepptau hätten mitnehmen müssen, wären sie vielleicht noch vor dem Wetterumschlag ausgestiegen). Ein Artikel beleuchtet «vitesse et ski dans le cinéma en Suisse, 1900–1965», ein zweiter den Skilift-Pionier Ernst Constam, einen «Ingenieur der Geschwindigkeit (und des Rhythmus)». Susanne Stacher untersucht, wie Architektur in den Bergen «mit dazu beitragen kann, Geschwindigkeit zu steigern, indem sie den Körper beschleunigt»; das gilt für die Seilbahnstation Cima di Furggen zwischen Breuil-Cervinia und Zermatt oder die Bergisel-Sprungschanze in Innsbruck. Im Beitrag «Pferdestärken» dreht sich alles um die Paliorennen der italienischen Renaissance und das Erlebnis von Tempo. Laurent Tissot zeigt anhand von Tagebucheinträgen und Fotografien auf, wie der Neuenburger Himalaya-Pionier Jules Jacot-Guillarmod um 1900 mit Velo und Auto neue Geschwindigkeiten erfuhr. Beim Sprint im Bahnradsport kann auch die Person gewinnen, die am längsten still zu stehen vermag; Stehversuch, englisch standstill, heisst dieses taktische Manöver mit möglichst Null Fahrtwind.
Mitten in der 250seitigen Publikation «Vitesse» findet sich ein aufschlussreiches Gespräch mit Vincent Kaufmann, professeur de sociologie urbaine et d’analyse des mobilités à l’Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL). Darin geht es ganz allgemein um Geschwindigkeit, Beschleunigung und Mobilität, um ihre soziologischen, wirtschaftlichen und philosophischen Aspekte. Nur ein kurzes Zitat: «On est de plus en plus rapide, c’est à dire que le lent d’il y a trente ans est beaucoup plus lent que le lent aujourd’hui.»
Langsam käme sich sicher auch Gustav Lantschner vor. Der Geschwindigkeitsrekord auf Ski liegt heute bei 255,500 km/h (Männer) und 247,083 km/h (Frauen). Der Franzose Johan Clarey raste 2003 mit 161,9 km/h durch den Hanegg-Schuss – das höchste je gemessene Tempo in einem Abfahrtsrennen. Die höchste Durchschnittsgeschwindigkeit erreichte 1993 Armin Assinger mit 112,37 km/h in der Abfahrt in der Sierra Nevada. Und wenn vom Durchschnitt die Rede ist: Albert Guyot gewann 1921 auf einem Bignan 3,0 l den Grossen Preis von Korsika über 443 km, mit einem Schnitt von 72,420 km/h. Skijöring mit diesem Tempo auf der Kirchenfeldbrücke – wirklich höllisch!
Christophe Jaccoud, Grégory Quin (Hrsg.): Vitesse. Compétition, performance et accélération dans le sport. Les Sports Modernes n°3, Société, Culture, Temporalité, Territoire. Éditions Alphil-Presses universitaires suisses, Neuchâtel 2025. Fr. 35.- https://www.alphil.com/livres/1424-1768-les-sports-modernes-numero-3-2025.html#/1-format-livre_papier. Für Mitglieder der Association pour la valorisation des archives et de l’Histoire des sports (AvaHs) ist die Publikation im Jahresbeitrag von Fr. 60.- inbegriffen.