Ein ziemlich verkanntes und verblüffendes Lexikon aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
«Eiger, der äussere und innere, zwei hohe Felskolosse im A. Interlachen des K. Bern. Der erste, oder der eigentliche Eiger, von dem sich nordwestl. die Wengeren-Scheideck herabsenkt, ragt 12,220 F. ü .M. empor. Der zweite, oder der Mönch, steht südl. hinter ihm, auf der Grenzscheide von Bern und Wallis. Er ist 12,000 F. ü. M. (…) Beide Eiger können erstiegen werden.»
Was für eine kühne Aussage im letzten Satz! Wären diese Besteigungen wirklich durchgeführt worden, müsste die (alpinistische) Geschichte der beiden berühmten Berner Oberländer Gipfel umgeschrieben werden. Der bemerkenswerte Eintrag zu Eiger und Mönch findet sich in diesem Werk mit dem etwas langen Titel: «Vollständige Beschreibung des Schweizerlandes. Oder geographisch-statistisches Hand-Lexikon über alle in gesammter Eidsgenossenschaft befindlichen Kantone, Bezirke, Kreise, Aemter, sowie aller Städte, Flecken, Dörfer, Schlösser, Klöster, auch aller Berge, Thäler, Seen, Flüsse, Bäche und Heilquellen, nach alphabetischer Ordnung.» Und weiter steht da: «Herausgegeben im Verein mit Vaterlandsfreunden von Markus Lutz, Pfarrer in Läufelfingen, im Kanton Basel». Vor mir liegt die «zweite, durchaus umgearbeitete und viel vermehrte Auflage». Sie erschien in fünf Bänden bei Heinrich Remigius Sauerländer in Aarau von 1827 bis 1835; die erste Auflage datiert von 1822.
Die drei ersten Bände (mit 480, 503 und 536 Seiten) umfassen die lexikalischen Einträge von A wie «Aa, die, heißen eine Menge Bäche und ansehnliche Bergwasser in der Schweiz» bis Z wie «Zynikon, kl. Ort in der Pfarre Elgg, im zürch. A. Winterthur». Am Schluss der Bände stehen je ein paar Seiten mit Nachträgen, Verbesserungen und Zusätzen. Solche enthält ebenfalls Band 4 (mit 304 Seiten); zudem steht dort ein «topographisch-statistischer Abriß des Herzogthums Savoyen» sowie ein «neuer und vollständiger Wegweiser durch die schweizerische Eidsgenossenschaft und die benachbarten Länder». Da erfährt man zum Beispiel, wie weit der Weg von Aarau nach Aarburg ist, nämlich 3 Stunden und 5/12 Minunten (das sind, laut Erklärung, 25 Min.), und zwar auf der großen Strasse über Olten; eine Abkürzung wird erwähnt: «Der Fußweg von der Kapelle bei Starrkirch ist 10 Minuten näher, als die Straße über Olten.» Band 5 (mit 475 Seiten) ist der Supplement-Band mit neuen, ergänzten und korrigierten Einträgen von A wie Aare bis Z wie Zyfen, inkl. zwölf Seiten Nachtrag.
Ein Wort zum Autor: Markus Lutz (1772–1835) war ein reformierter Schweizer Theologe, Historiker und Schriftsteller. Von 1798 bis zu seinem Tod 1835 wirkte er als Pfarrer in Läufelfingen. Er war Gründungsmitglied der Schweizerischen Geschichtsforschenden Gesellschaft, Mitglied der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und Inspektor der Schule Rothenfluh. Neben historisch-geografischen Werken wie «Basel und seine Umgebungen neu beschrieben, um Eingeborene und Fremde zu orientieren» (1814) oder eben «Geographisch-Statistisches Hand-Lexikon der Schweiz» verfasste er Schulbücher. Das Erstaunliche ist, dass gerade sein Hand-Lexikon mit vielen Einträgen zu Bergen in der alten Führerliteratur nicht Eingang fand. Der zweite Band des «Hochgebirgsführer durch die Berner Alpen» von Coolidge/Dübi glänzt mit gut sechs Seiten Bibliographie inkl. Rebmann von 1620, Gruner von 1760 und Coxe von 1789, aber den Lutz sucht man vergeblich. Wenn ich selbst seine «Vollständige Beschreibung des Schweizerlandes» früher gekannt hätte, wäre in meine Bücher und Artikel sicher das eine oder andere Lutz’sche Zitat eingeflossen. Dass es dank Peter und Eva vom Schlossberg in Thun nun Teil meiner Bibliothek wurde, davon konnte ich ja nicht träumen, da ich von ihm schlicht nichts wusste.
Nach dieser etwas langen Einleitung noch kurz ein paar besondere Einträge. Zum Beispiel zum «Abendberg, der, ein bewohnter Berg über der Lütschenenfluh, oben am Thunersee im berner A. Interlachen. Auf seinem Gipfel, das Schiffli genannt, der ohne alle Gefahr erstiegen werden kann, hat man eine sehr reizende Aussicht.» Oder zur Blümlisalp: «…ist noch niemals erstiegen worden, obgleich der Zugang eben nicht besonders gefahrdrohend ist.» Das Matterhorn bzw. der Mont Cervin wird nur nebenbei erwähnt im Zusammenhang mit dem Matterjoch und seinen grossen Eisfeldern, über «die ein im Sommer selbst für die Maulthiere und Pferde gangbarer Pfad von Zermatt nach Breuil in 10 St.» führt. Der Moléson hingegen wird mit 21 Zeilen beschrieben, der Niesen mit 14 – wie die beiden Eiger. In Band 5 erfahren wir dann die nötige Korrektur: «Es ist nicht gewiß, daß die beiden Eiger erstiegen werden können, wenigstens hat sie, so viel bekannt ist, noch nie jemand erstiegen.» Und zum Niesen noch diesen Zusatz: «Die höchste Kuppe des Niesen ist sehr spitzzulaufend, so daß kaum 6 oder 7 Personen dicht zusammen gedrängt darauf stehen können.»
Hier können die Werke von Markus Lutz heruntergeladen werden: www.e-rara.ch/search/quick?query=markus+lutz
Alle «Bücher der Woche» unter: www.bergliteratur.ch