Vom alten Chalet zum Berghau

Die Schweiz ohne Chalets – undenkbar. Sehnsucht und Refugium in den Bergen und Köpfen. Auf nach Bern, mit aktueller Lektüre.

Là-haut sur la montagne, croula le vieux chalet.
La neige et les rochers
s’étaient unis pour l’arracher.
Là-haut sur la montagne, croula le vieux chalet.

Mitgesungen beim Lesen? Hoffentlich! „Le Vieux Chalet“ ist eines der bekanntesten Schweizer Volkslieder, 1911 geschrieben von Abbé Joseph Bovet, übersetzt in 17 Sprachen, darunter Chinesisch und Japanisch. Vier Strophen über einen Haustyp, den die Schweiz, ja die halbe Welt so liebt. Hier die zweite, in der das Berghaus von Schneedruck und Steinschlag zerstört wird. Aber der Hirte Jean baut es wieder auf, schöner als zuvor: „Là-haut sur la montagne, l’est un nouveau chalet.“

Wer mehr zum Chalet wissen will, muss nicht auf den Berg dort oben steigen, sondern aufs Feld dort drüben gehen, in die Schweizerische Nationalbibliothek (NB). Bis am 30. Juni 2023 ist die Ausstellung „Chalet. Sehnsucht, Kitsch und Baukultur“ zu besuchen. Sie gibt Antwort auf die Frage, was eigentlich ein Chalet ist. Ist es mehr als ein „altes Hüttlein“, wie „Le Vieux Chalet“ auf Deutsch tönt? Gibt es Eigenschaften, die ein Holzhaus zu einem Chalet machen? Oder ist ein solches Haus mit einem überstehenden Dach und mit ein paar Geranien auf dem Laubsägeli-Balkon einfach ein Sinnbild der Sehnsucht nach alpiner Natur, die allerdings auch zerstörerisch sein kann? Das erfahren wir auf dem Kirchenfeld in Bern, „augenzwinkernd, informativ und unterhaltsam“, wie die NB schreibt. Im vergangenen Winter war die Ausstellung im Gelben Haus in Flims zu sehen. An beiden Orten lag bzw. liegt ein A3 grosser Papierbogen auf, mit dem man sich sein eigenes Chalet basteln kann. Viel Fingerfertigkeit!

Wer jetzt noch einen ganz besonderen Chalet-Roman lesen möchte, sollte zu „Berghau“ von Angelika Waldis greifen. Berghau – da fehlt doch das S? Genau. Und das kam so: „Zwei Jahre hatte Sepp jetzt den Berghau. Eigentlich wollte er Berghaus Sepp über die Tür malen, aber dann stießen zwei Ziegen die Farbdose um. Dann halt Berghau.“ Passt. Denn dem Berggasthaus irgendwo oben in den Schweizer Alpen, nur zu Fuss erreichbar, kommt eines Tages noch mehr abhanden als ein Buchstabe. Der Klimawandel haut den Berg sozusagen entzwei, auf dem es steht, und damit auch das halbe Haus. Aber es steht noch und wird zum Refugium für zehn Leute, die vom Bergsturz überrascht wurden. Ein Abstieg ins Dorf ist nicht mehr möglich, die Seilbahn in der Nähe läuft nimmer, die drahtlose Verbindung ist gekappt. Zehn ganz unterschiedliche Personen eingeschlossen in einem halb kaputten Haus, zwei Tage und zwei Nächte, bis endlich der rettende Hubschrauber kommt. Wie im Permafrost tauen Schichten und Sachverhalte auf, verschieben sich Gefühle und Gewissheiten, nicht unbedingt zum Besseren. Ein atmosphärisch und sprachlich dichter (Berg-)Roman. Der Berg ruft nicht nur, er kommt auch, immer mehr sogar, und mit ihm die Chalets, ob alt oder neu.

Chalet. Sehnsucht, Kitsch und Baukultur. Ausstellung in der Schweizerischen Nationalbibliothek, Bern; 10.3. – 30.6.2023, Montag – Freitag 9 – 18 Uhr, Eintritt frei. Kuratorenführung am 2.5., 17.30 Uhr. www.nationalbibliothek.ch Mehr zum alpinen Blockbau: https://kleinmeister.ch/de/chalets-auf-allen-bildern

Angelika Waldis: Berghau. Roman. Atlantis Verlag, Zürich 2023. Fr. 30.- Lesung in der Kellerbühne St. Gallen, Montag, 22. Mai, 20 Uhr; www.kellerbuehne.ch/sites/details.php?detail=2023-05-22

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