Lenz auf der Lenzerheide. Und andere Geschichten von der mechanischen Eroberung des Hochplateaus zwischen Chur und Tiefencastel.

„Die Tage sind lang. Noch liegt viel Schnee (und er ist gar nicht schlecht zum Skilaufen, im Gegenteil!); aber schon zeigen die Südhänge trockene Grasflächen. Die Tannen beginnen zu duften, treiben aber noch nicht. Auf den Wiesen im Tale stehen Millionen bunter Krokus. Der Bach ist umsäumt von einem Goldbande aus Sumpfdotterblumen. Und in 2000 Meter Höhe, zwischen sonnenwarmen Felsen, fand ich gestern die ersten kleinen dunkelblauen Enzian.
Es ist eine köstliche Zeit. Keine Wolken des ganzen Jahres sind so lieblich wie die flaumig, leicht geflockten des Frühlings. (Haben Sie gewußt, daß jede Jahreszeit ihren eigenen Wolkentypus hat?)
‚Mozartwölkchen‘, sagte ein hübsches Gänschen letzthin – es hatte recht. Die Geschichte vom Huhn und der Perle…
Der Himmel ist blau, aber nicht so stählern wie im Herbste – eine versonnene Süße scheint in der Ferne zu schlummern. Es ist wohl die allerschönste Zeit hier oben – aber vielleicht ist der erste Lenz überall die schönste Zeit.
Einen langen Spaziergang habe ich heute auf Skiern gemacht, hinab nach Lenz und über die Wiesen zur alten Kirche Santa Maria.“
Schrieb Henry Hoek in „Wanderbriefe an eine Frau“ am 15. April auf der Lenzerheide; das Buch erschien 1925 im Gebrüder Enoch Verlag in Hamburg, wie viele andere Publikationen des Schriftstellers und Skipioniers. Mit „My dearest friend!“ ist dieser Brief von der Lenzer Heide überschrieben; damals setzte sich der Kurort noch aus zwei Wörtern zusammen, und das Wortspiel platzierte Hoek im Frühlingsbrief an seine Brieffreundin. Maria hiess sie; vielleicht ist sie nur ein vorgestellte Frau, an die Hoek seine sehnsuchtsvollen Briefe adressierte, von verschiedenen Orten in Graubünden und von Schwyz und Lugano aus. Immer wieder aber von der Lenzerheide, wo es dem brieffreudigen Wanderer offenbar sehr gut gefiel. Im Sommer bestieg er das Lenzer Horn: „Das ist ‚der‘ Berge der Heide, sein Wahrzeichen. Kühn und hoch sieht er haus. Für berggewohnte Gänger ist er aber nur ein besserer Spaziergang.“ Hoek bezeichnete das Lenzer Horn (2906 m) gar als „Damenberg“.

Das Lenzer Horn ist einer der wenigen Gipfel, an oder auf den keine Seilbahn und kein Lift führt. Parpaner Rot-, Weiss- und Schwarzhorn auf der einen Seite, Piz Scalottas, Piz Danis und Stätzerhorn auf der andern: Sie sind mehr oder weniger ohne Aufstiegsmühen erreichbar, sind erschlossen mit Pisten, auf denen auch Weltcuprennen stattfinden. Die mechanische Eroberung auf dem sonnigen Hochplateau zwischen Chur und Tiefencastel begann im Winter 1936/37, als das Funi, eine Schlittenseilbahn, gegen den Piz Danis zu gleiten begann. Heute laufen 35 Transportanlagen (1 Luftseilbahn, 1 Gondelbahn, 12 Sesselbahnen, 14 Skilifte, 5 Kinderskilifte, 2 Zauberteppiche) mit einer Beförderungskapazität von 39’386 Personen pro Stunde; sie erschliessen 155 km Pisten, wovon 60 km beschneit sind. Henry Hoek würde staunen und seiner Brieffreundin wohl ein SMS schicken.
Die Aufstieg von Lenzerheide zu einem erfolgreichen Fremdenverkehrsort und die Geschichte der Bergbahnen ist in zwei hübsch illustrierten Bildbänden greifbar. In „Vom Maiensäss zum Kurort“ kommt auf den Seiten 106 bis 116 auch Henry Hoek zu seinem Auftritt, mit den Kapiteln „Schäferhütte (Scalottas-Sattel)“ und „Piz Danis“ aus dem Buch „Schussfahrt und Schwung. Ein Brevier alpiner Abfahrten“ (1931). Zitat aus „Piz Danis“, wie sich der Skifahrer den Übungshängen von Lenzerheide nähert: „Wie lange fuhren wir? Es ist die Abfahrt wie das leben: Der Anfang ist schon fast das Ende…“
Sonnige Oster(ski)tage!
Fritz Ludescher: Vom Maiensäss zum Kurort. 125 Jahre Kurhaus und Kurort Lenzerheide. Cancas Verlag/Druckerei Casutt, Chur 2007, Fr. 36.-
Fritz Ludescher: 75 Jahre Lenzerheide Bergbahnen. Die Bergbahngeschichte in Wort und Bild. Cancas Verlag/Druckerei Casutt, Chur 2010, Fr. 57.-