Vom Matterhorn zum Eiger

Die berühmtesten Gipfel der Schweiz sorgen immer wieder für Dialoge und Drucke.

«Der Eiger mit seiner irren Geschichte. Die schwierigsten Touren habe ich am Mont Blanc geklettert. Auch das Matterhorn ist spannend.»

Überraschende Antwort von Reinhold Messner auf die Frage nach dem faszinierendsten Berg in der Schweiz in einem Interview mit der „Coopzeitung“ vom 12. Juli 2022. Man kann davon ausgehen, dass der Südtiroler, „der berühmteste Alpinist der Welt“, weiss, wo der Mont Blanc liegt, nämlich zwischen Italien und Frankreich. Vielleicht ist aber dem Fragesteller Andreas W. Schmid beim Redigieren des Interviews diese Gebietserweiterung der Schweizer Alpen unterlaufen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass der Mont Blanc im 18. und 19. Jahrhundert sozusagen zur Schweiz gehörte, wenigstens in Führerwerken. 1793 gab Johann Gottfried Ebel mit seiner „Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen“ einen der ersten und erfolgreichsten Reiseführer zur Schweiz heraus. Beim Stichwort „Chamounythal“ heisst es: „Wenn man die ganze Schweitz gesehen hat, so ist die Reise in dieses Thal nicht überflüssig; ganz im Gegentheil, denn man findet die Natur nirgends so gross, so ausserordentlich, nirgends solche Ansichten und Naturscenen als hier.“ Und auf vielen Reisen durch die Schweiz war es selbstverständlich, dass von Genf aus der Umweg über Chamonix ins Wallis und in die Schweiz gemacht wurde. Bleiben wir also grad im Wallis, bevor wir ins Berner Oberland wechseln.

Der Genfer Literaturwissenschaftler Jean-Michel Wissmer – man kennt ihn von seinem Buch über Heidi (https://bergliteratur.ch/das-bergbuch/) – schrieb ein Buch über den berühmtesten Berg der Alpen, der Schweiz und wohl auch von Italien: „La montagne inutile. Du Cervin et d’autres sommets“. Darin kreist er um das Matterhorn und seine Geschichte, insbesondere um diejenige seiner ersten Besteigung. Interessant wird es dort, wo Wissmer neue Knoten findet, also nicht neue Aspekte der Tragödie vom 14. Juli 1865, sondern unbekannte Querverbindungen. So dass beispielweise Samuel Beckett, Autor von „Warten auf Godot“, dem Inbegriff des absurden Theaters, im Hörspiel „All that fall“ von 1957 kurz das Matterhorn erwähnt. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass Wissmers allgemeine Ausführungen zum „Cervin et la littérature de montagne“ nicht über die Hörnlihütte hinauskommen. Die geniale Novelle „La première fois“ von Samivel scheint er nicht so kennen. Und, wenn wir schon steckengeblieben sind: Der Titel seines Buches ist natürlich eine Anspielung an „Les conquérants de l’inutile“ von Lionel Terray. Nur macht es einen Unterschied, ob Menschen das Nutzlose erobern oder ob der Berg keinen Nutzen hat. Für die Leute von Zermatt und Breuil-Cervinia hat er wohl einen.

Der Eiger für die Leute von Grindelwald ebenfalls. Zwei neue Eiger-Bücher sind erschienen. Ich selbst habe sie (noch) nicht in der Hand gehabt. Doch ich habe Rainer Rettner, den besten Kenner der irren Geschichte des Eigers – und selbst auch Autor von Publikationen zum Eiger und von Buchkapiteln zum Matterhorn und zu den Grandes Jorasses – um Einschätzungen gebeten:

«Ein Buch über den Eiger schreiben, ganz ohne Nordwand? Unmöglich! Oder doch nicht? Die junge Südtiroler Bergsteigerin Andrea Wisthaler hat genau das getan, mit „Eiger – Die längste Nacht meines Lebens“. Sie war im Juli 2019 gerade mit fünf Kollegen dabei, den Eiger via Ostegg und Mittellegigrat zu überschreiten, als sie wenig unterhalb der Mittellegihütte von einem Wettersturz überrascht und zu einem Notbiwak gezwungen werden. Die dramatische Nacht auf 3200 Metern Höhe wird von der Autorin schonungslos offen und eindringlich geschildert. Am Ende kommt alles gut: Die REGA kann während einer kurzen Wetterberuhigung alle Bergsteiger ausfliegen. Wisthalers Seilpartner hat gerade noch 29,6 ° Körpertemperatur, kommt jedoch ohne Schäden davon. Ein lesenswertes, emotionales Buch, das auch mit Selbstkritik nicht spart.

Eher nicht für GelegenheitsleserInnen geeignet ist dagegen Gerhard Mayers „Bergsommer 1961 – Von den Drei Zinnen über den Mont Blanc bis zur Eiger-Nordwand“. Im Eigenverlag herausgegeben von Mayers Schwiegersohn Hans Sölch wird die erfolgreiche Tourensaison minutiös dokumentiert, die Gerhard Mayer und dessen Freund Georg Huber Ende September mit der 21. Durchsteigung der damals noch wirklich berüchtigten Eigernordwand krönen. Die Texte bestehen mehrheitlich aus den Tagebuchnotizen Mayers sowie einigen Hintergrundinformationen. Highlights des Büchleins sind einige schöne Fotos aus der Nordwand, auf 180 Seiten erweist sich die Lektüre jedoch als etwas ermüdend.»

„Wir tun etwas, das absurd ist.“ Titel des Interviews mit Messner in der „Coopzeitung“. Aber reden und schreiben und lesen darüber, das geht zum Glück oft ganz gäbig.

Jean-Michel Wissmer: La montagne inutile. Du Cervin et d’autres sommets. Éditions Slatkine, Genève 2022. Fr. 34.-

Andrea Wisthaler: Eiger – Die längste Nacht meines Lebens: Eine junge Bergsteigerin und ihr Kampf ums Überleben. Athesia Tappeiner Verlag, Bozen 2022. € 25,00.

Gerhard Mayer: Bergsommer 1961: Von den Drei Zinnen über den Mont Blanc bis zur Eiger Nordwand. xyania internet verlag, 2022. € 25,00.

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