Das Wetter war durchwachsen angesagt, doch wir hatten einen Plan B ausgearbeitet: Eine Route über zwei Pässe und zwei Gletscher, zu der wir kaum Informationen hatten, die beinahe unbekanntes Land war. Und wieder einmal wurde ein B Plan zum ganz besonderen, vielleicht zum grösseren Erlebnis.
Die Cabanne de Valsorey liegt hoch inmitten eines Steilhanges, klein auf einer Felsenkuppe. Es ist eine Bergsteigerhütte wie sie immer seltener zu finden sind. Das Plumpsklo liegt zwanzig Meter abseits auf einem Felsen in einem Blechcontainer, und weil im Schneefall vor zwei Tagen das Rohr gefroren und geplatzt war, ist der Brunnen daneben trocken und still. So muss man sich mit den Schneeresten behelfen, oder zum Waschen den Eimer voll Wasser nehmen, den die beiden Frauen, die hier wirten, als Ersatz neben den Brunnen gestellt haben.
Auf ihrer Rückseite wird die Hütte dräuend überragt von den tausend Meter hohen Flanken des Grand Combin, düsterer Fels, aus dem jetzt am Nachmittag das gepolter tauender und abbrechender Eiszapfen zu hören ist. Der beste Platz ist eine meterbreite Holzbank auf der Vorderseite, auf der wir nachmittags ein Vitamin-D Bad nahmen und abends die lange Dämmerung im Westen begleiteten. Dorthin geht der Blick frei und weit zu den stachligen Felsrücken des Mont Blanc-Gebiets, jetzt, Anfang September, eine Welt eingeschneiter Felsburgen, deren Gletscherzungen und Eisbrüche sich in die kaum einsehbaren Schluchten geflüchtet haben. Nur am alles weit überragenden Fast-Fünftausender in ihrer Mitte triumphieren sie emporschlängelnd über die Felsen. Während still, tief unter uns, silberne, fast durchsichtige Nebelstreifen vom Val d´ Entremont hereinzogen, beobachteten wir das schwindende Licht, den Sonnenuntergang hinter dem Mont Blanc. Erst als sich der zaghafte Schimmer des Mondes in den obersten Flanken der Brenva-Seite bemerkbar machte, gingen auch wir leise hinein in die längst schlafende Hütte.
Am Morgen waren wir vier die einzigen der insgesamt acht Gäste, die um Fünf bei einem dunklen Frühstück sassen. Als wir später die felsigen Hänge anstiegen, überschwappten uns wieder und wieder einzelne Nebel, die sich von einem wogenden Meer knapp unterhalb der Hütte lösten, über uns und dann an den Felsflanken in die Höhe krochen, um oben an den Graten zu verschwinden. Eine hohe Wolkendecke saugte den Mondschein in sich auf, wie ein Schwamm eine silberne Flüssigkeit, und leuchtete fahl über der schwarzen Erde. Das Leuchten wurde blasser während wir höher stiegen, bis es langsam in ein Rot tauchte, das eine irgendwo aufgehende Sonne kurz zwischen Horizont und Wolkendecke warf. Die letzten Meter zum Col de Meitin, auf dem uns plötzliche und jäh ein eisiger Nordwind anfuhr, stiegen wir schliesslich im Licht eines grauen Tages auf.
Jenseits, unter uns, lag das Gletscherbecken, eine gelbliche, spaltendurchzogenen Firnfläche, auf der weiss der Schnee von vor zwei Tagen, in langen, unterbrochenen Dünen lag. Der Weg dort hinab führte über einen blanken Steilhang und einen offenen Bergschrund und kostete uns Zeit da wir in zwei Seilschaften gingen und Eisschrauben ein- und ausdrehen mussten. Kaum unterhalb des Grates war der Wind wieder verschwunden, doch zog vom Glacier de Corbassiere langsam ein grosser Nebel herauf. In diesem Nebel schlichen wir handbreit vorbei an kleinen Spalten, die sich nach unten zu Kathedralen weiteten, als blicke man vom First eines Kirchenschiffes hinter einem verrutschten Ziegel ins Innere. So präsentierte sich uns das Plateau des Maisons Blances als eine Stadt der Hallen und Säle, die wir über ihre löchrigen Dächer passierten. Auf den Felsen am Fuss des Combin de Boveire spielte ein Sonnenfleck in dem wir rasteten. Der grosse Nebel war jetzt angestiegen und lag uns gegenüber am Grand Combin, vor dessen breiten Eisbalkonen er nur ein schmaler, unscheinbarer Streifen war.
Der Col de Panossiere, unser nächster Übergang, setzte fünfzig Meter hoch felsig auf den Gletscher ab. Wir erreichten ihn in einem weiten Rechtsbogen durch mal glattgeschliffene, mal brüchige Felsen und betraten auf seiner anderen Seite den Glacier de Boveire. Breite Spalten zogen kreuz und quer und verschwanden schmäler werdend im Neuschnee, den wir in tastenden Bögen durchspurten. Weiter unten umgingen wir eine Bruchzone am Rand einer Felseninsel, von der aus sich an manchen Orten Geröll auf die Spalten ergoss, während an anderen grosse, längliche Blöcke zu Brücken verklemmt waren, auf denen wir mit unseren Steigeisen kratzend balancierten, oder in einem kurzer Boulder über den Abgrund gelangten. Über die unterste Zunge und ihr steiles Ende hinab, gelangten wir schliesslich direkt neben dem Gletschertor auf das steinige Vorfeld.
Wie durch einen Tunnel gingen wir später hoch auf einer schmalen aber begrünten Moräne absteigend erneut durch dichten Nebel, als von der anderen Seite leise und wie von weit her, Kuhglocken zu hören waren. Unterhalb der Wolkenbasis durchstreiften wir Beete reifer Heidelbeeren und mussten uns dann gut fünfzig Meter weit durch Erlengestrüpp schlagen, ehe wir einen Weg erreichten, der über Weiden und durch Wald ins Tal führte und uns von seinen Rändern her überreich mit Himbeeren beschenkte.
Kein Tropfen Regen war gefallen und keinem Menschen waren wir begegnet.