Von Einsichten, Ansichten und Aussichten

Es ist zum Verzweifeln. Neben den frisch gepflügten Äckern grinsen von Plakaten die Gutbürgerlichen um die Gunst der Wähler. Wir flüchten in die Natur. Die hält eher, was sie verspricht. © Annette Frommherz p1010823

Die Berghänge zeigen sich unverfälscht. Das Glarnerland ist bekannt für seine steilen Hänge, dazu steht es. Keine faulen Tricks, nirgends imitierte Tatsachen. Die Herren und Damen auf den Plakaten mit ihren hübschen Krawatten und Foulards sind weit weg, als wir in Ennenda die Seilbahn zum Bärenboden besteigen. Keine Haarteile auf dem kahlen Kopf; keine toupierten dünnen Strähnen. Hier sind die Matten frisch geheuet. Im nächsten Jahr wird wieder neues Gras wachsen. Wird wieder Gras darüber wachsen. Über die Mannen mit ihren Versprechen und den Zeigefingern am Kinn, als würden sie ganz angestrengt nachdenken. Über die Klimaveränderung. Den starken Franken. Das Sozialsystem, das zu überdenken sich durchaus lohnen würde.
Aber wir wollen hier nicht politisieren. Sowieso hat die Politik mit der Natur wenig gemeinsam. Oder die Natur mit der Politik wenig am Hut. Das Glarnerland überrascht mich einmal mehr mit seiner Vielfalt. Wir haben es gewählt, weil gegen Abend Gewitter angesagt sind und es in diesem Täli vielleicht länger fönt. Und weil es so nahe liegt und so schön ist und die Namen der Berge und Seelein so lieblich verwirrend. Heuplanggen, Chüewald und Chli Gheist. Schafleger und Hüenderchöpf. Über Stock zum Stöckli. Übers Höch noch höcher. Die Seelein und das wilde Plateau drumherum sehen vom Gufelstock aus wie Kraterlandschaften. So muss es auf dem Mond aussehen, so wild und urchig und unangetastet, denke ich, da wäre es schade, man würde die mit den Zeigefingern am Kinn auf den Mond schiessen. Da ginge die ganze wunderbare Pracht kaputt. Und die Landschaft wäre nicht mehr so still. Ich halte den Atem an, weil der so laut ist, und auch mein Tinnitus lässt mich für einmal in Ruhe, und die Ruhe ist bald fast nicht auszuhalten. Ich atme wieder. Einerseits, weil es nicht anders geht, andererseits, weil zu viel Ruhe für uns Zivilisierten schnell störend werden kann.
Wir machen Rast. Was möchtest du, frage ich. Isch mär glich. Habe ich grad nicht im Sortiment. Dann gib mir das andere. Ich reiche ihm die Dörrfrüchte.
Vom Gufelstock aus wandern wir über das Höch zum Chli Höch, und so hoch ist es mit seinen 2400 Metern über Meer dann doch nicht. Der Fön hat es eilig. Er saust mit warmer Stärke um unsere Köpfe, und ich bin froh, weder falsche Teile zu tragen noch mein Haar toupiert zu haben. Vom Heustock wollen wir zum Fusse des Schwarzstöckli (2385 müM), und eigentlich wollte ich einen kurzen Blick zum Schilt (2299 müM) hinüber wagen, da lässt mich der Steinbock keine zwei Dutzend Schritte vor mir wie angewurzelt stehen. Gelangweilt blickt er zu uns herüber. Wie ein Politiker in der dritten Amtsperiode. So nahe wie dieser Steinbock ist mir ein Staatsmann noch selten gekommen. Ich bin fasziniert. Noch mehr, als ich hinter dem Bock noch einen sehe. U nid nume eis, nei, zwöi, drü, vier, füüf, es ganzes Schoossiniong voll si da desumegschläberlert u hei zängbigerlet u globofzgerlet u gschanghangizigerlifisionööggelet, das es eim richtig agschnäggelet het. Und die Alp ihre Bühne, und die Felsblöcke ohne Rednerpult und Mikrofon und doch mit mehr Aussagekraft als jede Wahlpropaganda. Es ist zuviel für uns. Wir stehen staunend da und können es kaum fassen. Weit über fünfzig dieser mächtigen Tiere posieren für unsere Kamera, und keines lässt sich lumpen. Sie schauen hin, die einen grasen. Andere kauen bedächtig, als wüssten sie, dass sie sich hier in einem Schutzgebiet aufhalten und deshalb vor des Jägers Flinte sicher sind. Freiwild. Freies Wild. Einer stösst mit seinen Hörnern nach dem Rivalen. Er ist der Einzige, der mich an die parteiübergreifenden Sparglimenten erinnert. Als wir es endlich fertigbringen, uns von diesem Anblick zu lösen, ist eine halbe Ewigkeit vorüber, und wir nähern uns dem späten Nachmittag.
Ich (176 cm über Boden) überlasse das Wandern meist lieber dem Zufall, während er (178 cm über Boden, behauptet er) bei jeder Abzweigung jedem Wegweiser misstraut und die Karte hervornimmt. Die Wegminuten auf den Schildern – das müssen wir inzwischen einsehen – geben uns keine Garantien. Meist haben wir mindestens doppelt so lange als vorgegeben, weil wir den Hauswurz eingehender betrachten, der auf dem Felsvorsprung wächst, oder bei der Wilden Margerite stehen bleiben, die im Fön sachte pendelt. Da kämen wir in der Politik nirgends hin, dafür sind wir nicht gemacht.
Wir haben Hunger. Was möchtest du, frage ich. Isch mär glich. Ist mir grad ausgegangen. Dann gib mir das andere. Ich reiche ihm den Käse. So einfach könnte das Leben sein. Ist es aber nicht. Die Politik noch weniger. Bei der Seilbahnstation bringt der Bergbauer in zeitloser Weile sein Heu ins Trockene, während im Tal unten andere in letzter Hast ihre Schäfchen in die Herde treiben.

p10108611

Ein Gedanke zu „Von Einsichten, Ansichten und Aussichten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert