Bauen in den Bergen. Ein weitreichendes Dach für vier spezielle Buchzimmer.
«‹St. Moritz ist am Ende›, antwortete sie leichthin. ‹Vor einigen Jahren hatte es Möglichkeiten. Wunderbare Möglichkeiten. Jetzt nicht mehr. Diese Krise hat den letzten Strohhalm geknickt. Schauen Sie sich all diese grossartigen Hotels an, von denen einige geschlossen und die anderen halb leer sind. Viele der Geschäfte sind zu, der Rest steht kurz vor dem Bankrott. Diejenigen von uns, die Geld haben, sind zu weise, um es hier zu investieren.›»
Verdammt düstere Aussichten für den weltberühmten Kurort – die Krise hat St. Moritz offenbar voll erwischt. Corona? Ma no! Sondern Ausschnitt aus einem Roman, der dem dortigen Kurdirektor Walter Amstutz den Job kostete. Verfasserin war seine Ehefrau Eveline Amstutz-Palmer, das Buch heisst „The Masters Comes Home“, erschien 1937 in England und sorgte für ziemlich dicke Luft im Champagnerklima des Oberengadins. Den oben zitierten Abschnitt mit dem dezidierten Auftritt der Protagonistin Anna Lareida übersetzte Cordula Seger für ihr neues Buch, das einem der schönsten und geschichtsvollsten Haus von St. Moritz gewidmet ist: „Biografie eines Hauses – Chesa sur l’En – St. Moritz“. Das Haus über dem Inn also, angelehnt an die Anhöhe Crasta Büsauna gegenüber von St. Moritz Bad: eine kunstvolle Mischung aus Märchenschloss und Traumchalet. 1882–1883 von Baumeister Nicolaus Hartmann senior und Chaletfabrikant Alexander Kuoni im Auftrag der Familie von Planta erbaut, war es zuerst repräsentatives Ferienhaus, dann Genossenschaftsherberge, später Familienhotel und ist heute privater Wohnsitz. Die prächtig ausgestattete Hausbiografie geht dem Leben der Chesa sur l’En mit spannenden Geschichten nach und schaut weit über das Balkongeländer hinaus. Perfekte Lektüre für Home Vacation.
Dann wechseln wir, zuerst virtuell, später hoffentlich aber auch reell, in ein anderes Haus. Es liegt auf einer Sonnenterrasse östlich unterhalb des Schattenstock in den Glarner Alpen, leicht gekrümmt voll gegen Süden ausgerichtet, zweistöckig mit einem Schrägdach. Ein architektonisches und skihistorisches Bijou von 1931, das 2016 umfassend saniert wurde. Mit „Ortstockhaus Braunwald. Ein Berggasthaus in den Glarner Alpen“ von Michael Hanak und Christof Kübler widmet sich der AS Verlag gleich noch einem besonderen Gebäude in den Schweizer Alpen. Im Gegensatz zur Chesa sur l’En kann das Ortstockhaus aber besucht werden, und das empfiehlt sich sehr, gerade im Winter, mit Ski, Snowboard oder Schneeschuh. Unvergesslich der Abend vom 11. Januar 1992, den ich mit zwei Freunden dort verbrachte – mein erster Besuch im Glarnerland. Ich hätte keinen schöneren Ort finden können als das Ortstockhaus.
Auch im dritten Buch dreht es sich um Bauten in den Bergen, aber einmal auf eine ganz andere Art. Was passiert mit den Ställen in den Tessiner Alpen, die nicht mehr gebraucht werden und langsam zerfallen. Restaurieren und mehr oder minder sensibel zu Ferienhäusern umbauen? Nichts machen, bis einmal alle Steine verstreut am Boden liegen und von der Vegetation langsam zugedeckt werden? Der Architekt Martino Pedrozzi aus Mendrisio hat sich für einen dritten Weg entschieden. Einen doppelten. Einerseits restauriert er Gebäude, die noch stehen, mit ganz einfachen Mitteln, damit sie nicht weiter zerfallen, aber weiter so aussehen, wie sie einst erbaut wurden. Andererseits schichtet er zerfallene Gebäude zu einem reckeckigen Sockel auf, gibt ihnen wieder einen Grundriss, eine Struktur. Martino Pedrozzi schafft somit eine baulich überzeugende Erinnerung an das einstige Leben und Wirtschaften auf der Alp, die gleichzeitig aber auch Land Art sein könnte. Ganz stark. Und unbedingt besuchenswert, jetzt gleich noch oder dann im nächsten Sommer: die Alpe di Sceru und die Alpe di Giumello im Val Malvaglia, diesem einzigartigen Seitental des Valle di Blenio. Alles Weitere und die entsprechende Vorfreude im Bildband „Perpetuare achitettura/Perpetuating Architecture“.
Um Hütten in den Alpen geht es ebenfalls im vierten Buch. Isabelle Van Wynsberghe widmet sich in „Des cabanes et des hommes“ ausführlich den sechs Hütten der 1922 gegründeten Section Gruyère des Schweizer Alpen-Clubs. Von den sektionseigenen (Ski-)Hütten Oberegg, Portes und Clés über die Cabanes Les Marindes und Bounavaux, die beide den Aufstieg zum höchsten Freiburger Gipfel, dem Vanil Noir, erleichtern, bis zum futuristischen Bivouac du Dolent, werden Geschichten und Anekdoten erzählt, die durchaus auch für Nichtclubisten von Interesse sind. Vor allem das Dolentbiwak im Val Ferret steht schon ziemlich schräg in der Landschaft, vom Aussehen her natürlich. In jeder Hinsicht meilenweit entfernt von der Chesa sur l’En. Und doch: ein festes Dach über dem Kopf. Solches braucht es in Krisen erst recht.
Cordula Seger: Biografie eines Hauses – Chesa sur l’En – St. Moritz. Eine Publikation des Instituts für Kulturforschung Graubünden (ikg). AS Verlag, Zürich 2020, Fr. 58.-
Michael Hanak, Christof Kübler: Ortstockhaus Braunwald. Ein Berggasthaus in den Glarner Alpen. Herausgeber OSH Braumwald GmbH. AS Verlag, Zürich 2020, Fr. 42.-
Perpetuating Architecture. Martino Pedrozzi’s Interventions on the Rural Heritage in Valle di Blenio and in Val Malvaglia 1994–2017. Edited by Martino Pedrozzi. With contributions by Sebastiano Brandolini, Thomas Kissling, Bruno Reichlin and Günther Vogt. Photographs by Pino Brioschi. Italienisch/englisch. Park Books, Zürich 2020, Fr. 39.-
Isabelle Van Wynsberghe: Des cabanes et des hommes. Histoire et anecdotes du Club Alpin Suisse section Gruyère. Editions La Sarine, Fribourg 2018, Fr. 45.-