Der Schock des ersten Schnees hat unseren Rezensenten bewogen, die literarische Ausrüstung der Wintersaison anzumahnen. Ein paar Tipps des exzellenten Kenners von Skiliteratur, damit wir uns in einer eingeschneiten Hütte oder im Sporthotel nicht zu Tode langweilen.
„Der Schnee hängt wie kandiertes Obst im Wald.
Es war ganz gut, dass ich gestern fuhr.
Den Bäumen sind vielleicht die Füβe kalt…
Doch was weiβ unsereins von der Natur.
Der Schnee, das könnte klarer Zucker sein.
Als Kind hat man oft Ähnliches geglaubt.
Wieso fällt mir das heute wieder ein
und weshalb überhaupt?“
Die erste beiden Strophen im siebenstrophigen Gedicht „Meyer IX. im Schnee“ von Erich Kästner, 1929 veröffentlicht in seinem zweiten Lyrikband „Lärm im Spiegel“. Und wieder zu finden im vorzüglichen Reader „Kästner im Schnee. Geschichten, Gedichte, Briefe von Erich Kästner“, den Sylvia List 2009 herausgegeben hat. Ich habe dieses Buch erst in diesem Frühherbst entdeckt, und nun ist der Winter schon im Spätherbst bei uns eingezogen. „Das schneit und schneit!“ schrieb Kästner im Meyerschen Schneegedicht, und so war’s ja wirklich am letzten Wochenende. Weiss die Welt, als ich am Montag Morgen zum Bürofenster hinausschaute, doch am Nachmittag kam die Oktobersonne hervor und leckte den Schnee weg, als wären sie beide vom März. Am Schatten aber bleibt der Schnee noch ein Weilchen liegen, ein überraschender Vorbote des Winters.
Da passt das „Kästner im Schnee“ natürlich wunderbar. Einiges dürfte man kennen in diesem hübschen Buch, zum Beispiel die bitterbösen Gedichte „Vornehme Leute, 1200 Meter hoch“ und „Maskenball im Hochgebirge“. Und vielleicht auch den Schneeroman, der in Bruckbeuren spielt. Bruckbeuren? Diesen Wintersportort wird man in der Realität vergebens suchen; im Manuskript hatte Erich Kästner anfänglich noch Kitzbühel gesetzt. „Drei Männer im Schnee“ kam 1933 ins Kino und im Jahr darauf in die Buchhandlung. Auf dem strahlenden Gipfel oben, so steht es in Kapitel fünf, verliert „der Mensch, vor lauter Glück und Panorama, den letzten Rest von Verstand, bindet sich Bretter an die Schuhe und saust durch Harsch und Pulverschnee, über Eisbuckel und verwehte Weidezäune hinweg, mit Sprüngen, Bögen, Kehren, Stürzen und Schußfahrten zu Tale.“ Na, so weit reicht es mit dem Oktoberschnee dann doch wohl nicht. Aber ich würde die Ski schon mal aus der Kellerecke hervorholen und für den ersten Ausflug bereit machen.
Wie gesagt: „Kästner im Schnee“ kenne ich noch nicht lange. Ich erfuhr davon, als ich Mitte September in der Buchhandlung Krebser in der Thuner Altstadt das jüngste gebirgige Lesebuch von Diogenes sah, mit dem Titel „Bergglühen“ und mit dem Plakat von Carl Moos für Chocolat Klaus von 1905 als Cover; es zeigt einen Hirten und seine Kühe als Schattenriss und das Wetterhorn vor einem glühend roten Himmel. Die zweite Geschichte in diesem Lesebuch ist Erich Kästners „In Halbschuhen auf die Jungfrau“ – von ihr hatte ich noch nie gehört. Als Quelle ist „Kästner im Schnee“ angegeben, was nur halbrichtig ist; zum ersten Mal erschien die sehr lesenswerte Schilderung der Fahrt aufs Jungfraujoch am 19. August 1928 in der „Neuen Leipziger Zeitung“. Die Nachweise zu den 26 Geschichten im Diogenes-Reader sind ohnehin zu mager. Beispiel: „Schweizer Berge“ von Goethe, so heisst es da, stammt aus „Goethe erzählt“, herausgegeben von Peter von Matt. Hoffentlich steht dann dort mehr, wie dies der Fall bei Kästner war.
Mit dabei im „Bergglühen“ sind übrigens mehrheitlich Schriftsteller und zwei Schriftstellerinnen, von denen man weiss, dass ihnen die Berge etwas sag(t)en und dass sie zu ihnen etwas zu sagen hatten bzw. haben, von Francesco Petrarca über Mark Twain und Max Frisch bis zu Tim Krohn. Etwas überraschend (für mich) mit dabei: T.C. Boyle, F. Scott Fitzgerad und Ingrid Noll. Sowie Patricia Highsmith; von ihr ist die Shortstory „Nichts Auffallendes“ abgedruckt, die im Hotel Waldhaus im winterlichen Alpenbach spielt (wo immer das auch ist). Ausschnitt: „Der Wind hatten den körnigen Schnee von den Höhen fortgeblasen und hie und da winzige Blümchen freigelegt, die im Schutz der Felsen wuchsen. Die Mehrzahl hatte kunstvoll geformte blaue Blütenkelche, aber es gab auch rosarote, gelbe und weiβe. Zusammengenommen bildeten sie ein Muster, wie in einem Kaleidoskop.“
Kästner im Schnee.Geschichten, Gedichte, Briefe von Erich Kästner. Herausgegeben von Sylvia List, Atrium Verlag, Zürich 2009, Fr. 17.90.
Bergglühen. Literarische Gipfelstürmer. Ein Lesebuch, herausgegeben von Daniel Kampa. Diogenes Taschenbuch, Zürich 2012, Fr. 15.90.