Vier Bildbände, die gut unter den Weihnachtsbaum passen.
«Ich versuche mir vorzustellen, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich damals nicht weggezogen wäre. Würde mir das Dorf auch so viel bedeuten wie als Emigrant in den USA? Oder würde ich bedauern, dass ich geblieben wäre? Die Schule in Vrin wurde 2014 geschlossen, mangels Schülerinnen und Schüler.»
Schreibt Verner Soler in der Legende zu seinem Bild der Mehrzweckhalle von Vrin. 1990 reiste der in diesem Bündner Bergdorf aufgewachsene Primarlehrer nach Los Angeles. Aus geplanten sechs Monaten Aufenthalt wurden mehr als 30 Jahre. Soler studierte in Kalifornien Fotografie und Werbegestaltung, gründete eine neue Familie und wurde Creative Director bei Saatchi & Saatchi, wo er Kampagnen für Weltmarken wie Toyota verantwortet. Trotzdem – oder vielleicht: deshalb – zieht es ihn immer wieder zurück in das Dorf seiner Kindheit und Jugend, wo seine alte Familie bis heute lebt. Die Kamera hat der Fotograf mit dabei, um Szenen (s)einer Heimat festzuhalten. Nun hat Verner Soler zusammen mit der Chasa Editura Rumantscha einen ganz aussergewöhnlichen Bildband geschaffen, dessen Originalität sich allein schon im dreisprachigen Untertitel offenbart: «Vrin. Home through an Emigrant’s Lens. Flüchtige Heimat. Bandunar e mai schar dar.» Da ist im Englischen der emigrierte Sohn, der sein altes Zuhause fotografiert. Die Heimat, vor der er vielleicht geflohen ist, die ihn aber einholt; wenn sie denn nicht abhanden kommt, nicht nur ihm, sondern auch den Menschen, die im Dorf (am Ende eines Seitentales im Bündner Oberland) geblieben sind. Und im Romanischen – in Vrin spricht man einen lokalen Dialekt von Sursilvan – bedeutet der Untertitel: verlassen und niemals geben lassen. So verhält es sich auch mit den Legenden zu den 153 grossen und grossartigen Fotos von Soler: Man sollte sie immer in den drei Sprachen lesen, nun ja, wenigstens in zwei. Denn oft erzählt der Emigrant verschiedene Geschichten. Aber bei den beiden Fotos der Hände seiner Mutter, aufgenommen 2010 und 2020, lauten sie gleich: Am Schluss steht «They are love. Sie haben geliebt. Els han carezau.» Man wird «Vrin» immer wieder zur Hand nehmen, gerade auch im Klimawandel, wenn noch mehr Abwanderung aus Bergdörfern droht. Bandunar e mai schar dar. Von Ilanz, der ersten Stadt am Rhein, braucht das Postauto bloss 46 Minuten ans Ende der Val Lumnezia.
Wir bleiben in den Bergen, reisen in ein anderes Dorf am Ende eines Tales, aber nicht am Ende der Welt. Denn dieses Dorf gehört zu den berühmtesten Tourismusorten der Welt. Die Position verdankt es dem auffälligen Berg hinter der Siedlung, und dem Mann, der 1854 das dortige Gasthaus mit zwölf Betten kaufte und dann die Gunst der triumphalen Tragödie nutzte, als von den sieben Erstbesteigern des Matterhorns am 14. Juli 1865 nur drei lebend nach Zermatt zurückkehrten. Sein Name: Alexander Seiler, gelernter Seifensieder aus Blitzingen im Goms. Bei seinem Tod im Jahre 1891 umfasste das Seilersche Hotelimperium neun Hotels mit über 1000 Betten und 700 Angestellten. Stephan Seiler, Urenkel des Hotelgründers, verfasste mit «Die Seiler-Saga. Eine Hoteliersfamilie prägt den Tourismus im Oberwallis» eine reichhaltig illustrierte Familien- und Hotelbiographie. Perfekte Lektüre, um mit dem Glacier-Express von Ilanz bzw. Disentis nach Zermatt zu reisen.
Dörfer am Ende eines Bergtales sind besondere Orte. Was als Sackgasse erscheint, kann auch eine Erweiterung des Horizonts sein. In Vrin eine agrar-ökonomische, kulturelle und soziale, mit dem Werk von Verner Soler. In Zermatt eine touristische, mit dem Buch von Stephan Seiler. Und in Saas-Fee eine in Sachen Baum und Bau. Im Ort am Fuss von Täschhorn und Dom ist der Bildband «Lärchengold und Gletscherweiss. Die Lärche – Lichtbaum der Berge» hauptsächlich angesiedelt. 2012 erschien er zum ersten Mal, glänzend zum «Europäischen Jahr der Lärche». Diese kenne ich nicht. Die Zweitauflage besticht visuell durch die 155 Fotos von Thomas Andenmatten. Einerseits frühlingsgrüne und herbstgoldene Lärchen in der Natur, vor allem als Vordergrund zu den hohen Schneebergen rund um das Saastal. Andererseits Häuser und Ställe aus Lärchenholz, seit Jahrhunderten verzahnt der Witterung trotzend. Luzius Theler geht als textlicher Hauptförster voran, gefolgt von 33 Autorinnen und Autoren. Eine bunte und spannende Mischung zum wohl wichtigsten und schönsten Baum des Wallis. Dort stellt die Lärche 29 Prozent des Holzvorrates, in der gesamten Schweiz nur fünf Prozent an der bewaldeten Fläche.
Eindrückliche Bäume und Wälder ebenfalls im Bildband «Les plus belles montagnes d’Europe. Une nature préservée». 2023 erschien er bei Frederking & Thaler, für die französische Ausgabe wurden ein paar ostalpine Gipfel durch französische ersetzt, mais bien-sûr. Geblieben ist eine fotografische Ode an eine fragile und geschützte Natur, vom Alpenbogen bis zu den Fjorden Norwegens und vom Ätna bis zu den Vulkanen der Azoren, über Island, Santorin, den Kaukasus. Die prächtigen Fotos von Stefan Hefele und Daniel Kordan illustrieren die gebirgige Majestät des europäischen Kontinents, der mit vielen verschiedenen Reliefs gespickt ist. All diese Landschaften kann man in diesem Buch nicht nur betrachten, sondern auch «lesen» lernen. Leider helfen die Bildlegenden nicht immer mit bei der Lektüre. Zu oft steht nicht, was zu sehen ist. Da fehlen Namen, ja manchmal gar die Gipfel, von denen die Rede ist, wie beim Snaefellsjökull (1446 m) ganz im Westen von Island. Für mich vielleicht besser so: Im Juni 1989 versuchte ich mit Eva Feller diesen verlockend gletscherweissen Vulkan zu besteigen, in dem Jules Verne seine «Reise zum Mittelpunkt der Erde» startet, allein das Wetter spielte nicht mit. Anders jedoch bei der Pedra Longa (128 m), einem der Wahrzeichen an der Ostküste Sardiniens; auf Seite 220 geht die Sonne neben dieser im Bildband namenlosen Felsnadel unter. Im Oktober 2001 stand ich gleich zweimal oben, zuerst alleine, dann mit Beat Hächler, damals noch nicht Direktor von ALPS Alpines Museum der Schweiz. Dort findet am 11. Dezember die Veranstaltung «Im Fluss – Dans le courant» statt; sie ist ausgebucht. Aber der internationale Tag der Berge kommt wieder, so sicher wie Weihnachten…
Verner Soler: Vrin. Home through an Emigrant’s Lens. Flüchtige Heimat. Bandunar e mai schar dar. Chasa Editura Rumantscha, Cuera/Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2024. Fr. 45.-
Stephan Seiler: Die Seiler-Saga. Eine Hoteliersfamilie prägt den Tourismus im Oberwallis. Hier und Jetzt Verlag, Zürich 2024. Fr. 59.-
Luzius Theler (Haupttext), Thomas Andenmatten (Fotos): Lärchengold und Gletscherweiss. Die Lärche – Lichtbaum der Berge. Weber Verlag, Thun-Gwatt 2024. Fr. 49.-
Stefan Hefele, Daniel Kordan (photos), Eugen E. Hüsler (texte): Les plus belles montagnes d’Europe. Une nature préservée. Éditions Glénat, Grenoble 2024. € 40,00.