Wandfussnoten und andere Berggeschichten

Tolle Titel für die Erstlinge von zwei gleich alten Alpinisten.

«Beim Klettern sind jedoch, anders als etwa beim Schwimmen oder Langlauf, nicht in erster Linie Kraft und Ausdauer gefragt. Technik ist von grosser Bedeutung. Marcel Remy, der Vater der Remy-Brüder, wurde 1923 geboren. 2017, mit 94 Jahren, kletterte er mit seinen Söhnen den ‚Miroir de l‘Argentine‘. Natürlich nicht in Rekordzeit. Und man sieht [im Youtube-Beitrag ‚Marcel Remy – 94 years old and back on the summit‘], dass er relativ rasch ausser Atem kommt. Und er klettert toprope. Aber die Bewegungen sind koordiniert und stimmig. Offenbar ist er durch seine grosse Routine in der Lage, die schwindende Kraft durch Geschicklichkeit zu kompensieren.»

Nun ist Marcel Remy zu seiner letzten Klettertour aufgebrochen. Am 10. Juli 2022 ist er sanft entschlafen – „son dernier grand départ en solo, depuis son lit chez lui“, schrieb mir Claude Remy, der ältere der berühmten Remy-Brüder. Am 11. März dieses Jahres ist Marcel zum letzten Mal geklettert, zusammen mit Adam Ondra, dem wohl besten Kletterer der Welt, für den im Entstehen begriffenen Film „Bravo Marcel“.

Das obige Zitat zu Marcel Remy findet sich im 22. und letzten Kapitel „Was bleibt“ im eben erschienenen Buch „Wandfussnoten. Ein Kaleidoskop des Kletterns“ von Lukas Blum (Jahrgang 1974). Er ist „seit 10 Jahren begeisterter Kletterer und Berggänger. Er lebt, wohnt und arbeitet zwischen Zürich, Horw und Castiel“, heisst es auf seiner Website. „Wandfussnoten“ ist sein erstes Buch. Elf Kapitel behandeln verschiedene Aspekte des Kletterns, sportliche, psychische, zwischenmenschliche und kulturelle. Das Seil spannt sich vom familiären Umfeld („Muttermilch“) über Liebesseilschaften und den gesellschaftlichen Umgang mit Risiko bis zum Nachlassen der Kräfte im Alter. Aufgelockert werden diese meist sachlichen Betrachtungen durch elf kurze persönliche Episoden. Eine gelungene Mischung, und manchmal habe ich die kurzen Geschichten lieber gelesen als die Erläuterungen, was auch daran liegen mag, dass mir einige Aspekte des Bergsportes, wie zum Beispiel seine Geschichte, doch ziemlich bekannt sind, während ich bei Anekdoten oft Neuland betreten habe. Schade nur, dass beim Lektorat ein paar Fehlgriffe passiert sind. Doch man darf darüber hinwegsehen und sich freuen an diesem Erstling. „Wer selbst klettert, wird, wie ich, verschiedene Situationen wiedererkennen“, schreibt Rachel Kernen, Kletterlehrerin Schweizer Bergführerverband und Trainerin für Leistungssport Swiss Olympic, im Vorwort. „Wer der Leidenschaft für den Fels noch nicht verfallen ist, erhält einen direkten Einblick in eine Welt, die irgendwo zwischen Sport und Lebenseinstellung steht.“

Wandfussnoten: ein feiner Titel. Gilt auch für einen zweiten Erstling: „Von Bergen und anderen Tälern“. Autor ist Maurice Caviezel, ebenfalls Jahrgang 1974; Bergsteiger seit über dreissig Jahren, Sport- und Sekundarlehrer, Schauspieler, von 2017 bis 2019 Hüttenwart der Kistenpasshütte SAC in den Glarner Alpen. 35 Geschichten aus den Bergen tischt er uns auf, humorvolle, traurige, komische, erstaunliche, gefährliche, belehrende. Letzteres fast zu oft, finde ich, insbesondere rund um die Hütte; aber vielleicht scheint der Alltag eines Hüttenwartes weniger erzählenswert als die Abwechslung mit Gästen, die eher ahnungslos über die Hüttentüre stolpern, wenn sie es denn bis dorthin überhaupt schaffen. Illustriert ist das Buch mit 19 ganz- und doppelseitigen Collagen von Natalie Collagen; geschickte hat sie zum Teil bekannte Bergfotos der Schweizer Alpen zu einem neuen Bild zusammengeschnitten, manchmal so fliessend, dass wir schon zweimal hinschauen müssen, um diese neu entstandene Hochgebirgswelt zu begreifen. Wer Eiger, Jungfrau und Matterhorn zu kennen glaubt, wird hier neue Ansichten kennenlernen, fast wie in einem Kaleidoskop. Beim Illustrieren – und beim Schreiben – ist es halt wie beim Klettern: Ohne Technik kommt man nicht recht vom Fleck.

Lukas Blum: Wandfussnoten. Ein Kaleidoskop des Kletterns. Mit einem Vorwort von Rachel Kernen. Eigenverlag, 2022. Fr. 19.80. www.lbbuch.ch

Maurice Caviezel: Von Bergen und anderen Tälern. Kurzgeschichten. Mit Collagen von Natalie Hauswirth. Weber Verlag, Thun/Gwatt 2022. Fr. 29.-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert