Eva Maurer legt die erste verlässliche Zusammenschau des sowjetischen Alpinismud unter Stalins Herrschaft vor. Rezension von Robert Steiner
Es mag kaum einen Gipfel geben, dessen Namen so von politischer Geschichte geprägt ist wie dieser. Früher, da nannte man den 7495 Meter hohen Eisriesen im Pamir nach dem Diktator. Als Stalin tot war, wurde er in „Pik Kommunismus“ umbenannt. Und als die Turbulenzen der Perestroika vorüber waren und es keinen Kommunismus mehr gab, gaben ihm die Tadschiken den Namen Pik Ismoil Somoni – nach einem Führer der Samaniden, der heute als „Vater der Nation“ gepriesen wird. Man ahnt es: dieser Berg hat etwas zu erzählen.
Eva Maurer nimmt den Pik Stalin zum Anlass, um ein Fundament zu legen: die erste verlässliche, die erste wissenschaftliche Zusammenschau des sowjetischen Alpinismus unter Stalins Herrschaft. Wahrlich, es ist Licht im Dunkeln. Bislang gab es kein vergleichbares Werk, nicht einmal in russischer Sprache. Wie bezeichnet man so ein Buch? Als Enzyklopädie wohl nicht. Eine Sozial- und Gesellschaftsgeschichte des sowjetischen Bergsteigens ist es. Und die gründlichste und objektivste Durchforstung, die die in Russland lagernden Archive der Alpingeschichte wohl je erfahren haben.
Maurer legt dar, dass der Aufschwung, den das Bergsteigen in der Sowjetunion erfuhr, weniger die Folge staatlicher Anordnung war, als der Verdienst weniger engagierter Bergsteiger, die ihre Positionen in gehobenen Stellungen nutzten, um eine Basis für den Sport zu schaffen – als „Akteure in eigener Sache“. Nicht dass der Staat dem Ganzen abgeneigt war. Anhand gut ausgewählter Quellentexte legt Maurer dar, wie periphere, zuvor kaum bekannte Gebirgsketten plötzlich in den Zentren der Politik Aufmerksamkeit fanden und ins Bewusstsein der Menschen rückten als Symbole von Macht, Erfolg und Multiethnizität. Für die Bergsteiger war es wohl stets ein Spiel mit viel Für und Wider. Ihr Sport gab ihnen Freiheiten, zu denen sonst nur wenige Zugang hatten. Er verlangte aber auch oft genug Unterwerfung unter das Monopol des Staates. Die Entwicklung zum Massensport mit den großen Alplagern und den „Alpiniaden“ genannten Wettkämpfen ist in „Wege zum Pik Stalin“ neben vielem anderen genauso nachgezeichnet wie der alpine Spitzensport, der jedoch nie die Beachtung fand, die sich die Bergsteiger gewünscht hatten. Raum- und Luftfahrt stahlen dem Bergsteigen die mediale Schau. Denn den Conquistadoren der Höhe fehlte ein zentrales Element sowjetischen Erfolges: Raketen und Raumkapseln, Flugzeuge und Polarschiffe: die Wunderwerke der Technik.
Sicher, oft genug merkt man dem Buch an, dass es aus einer Dissertation entstanden ist. An einigen Stellen führt der ansonsten gut lesbare Text intellektuelle Säbeltänze auf, für den Einsteiger mag die Detailfülle hin und wieder erschlagend sein. Etwas mehr Bilder hätten dem Buch gut getan, genauso wie ein Ausblick auf die Jahre nach 1960 – denn die wirklich großen Erfolge sowjetischen und später russischen Bergsteigens, etwa die Everest Südwestwand, die Überschreitung des Kantsch, die erst kürzlich durchstiegene K2 Westwand wären ohne die sowjetische Schule nicht möglich gewesen.
Für allerhand Unterhaltsames und vor allem Groteskes ist in den Wegen zum Pik Stalin jedenfalls immer wieder gesorgt. Etwa als ein Bergsteiger über den Elbrus berichtet, wo das sowjetische Massenbergsteigen kulminierte – auch mit seinen negativen Ausmaßen: „Ungeachtet ihrer Erkrankungen werden Leute mit Gewalt am Seil, sogar mit Prügeln […] auf den Gipfel geschleift, auf der Jagd nach hohen Prozenten“. „Der ganze Weg ist mit Erbrochenem bedeckt“. „Bergführer würden ‚unter Gelächter’ erzählen, wie Teilnehmer auf dem Gipfel in halb bewusstlosem Zustand herumkriechen oder teilnahmslos im Kreis gehen würden“. Oder als die Rede um die Kletterer im Krasnojarsker Klettergebiet Stolby geht, die seit jeher versuchten, staatlicher Kontrolle zu entgehen: „[A]uf den Stolby klettert eine ungeheure Anzahl unorganisierter [das heißt nicht in der DSO erfasster] Jugendlicher, welche die Traditionen der ‚wahren Stolbisty’ ‚bewahrt’, was den äusserlichen Aufzug, die Sauferei, das Klettern ohne jede Sicherung angeht“. In betrunkenem Zustand würde klettern, „wer, wo und wie er will“.
Eva Maurer: Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928–1953. Chronos Verlag 2010. CHF 78.00 / EUR 57.50