Wettlauf um die grossen Nordwände. Matterhorn – Grandes Jorasses – Eiger.

Die Geschichte um die „drei letzten Probleme der Alpen“ ist noch nie so genau und mit so starken Bildern erzählt worden, wie dies Rainer Rettner in seinem neuen Buch tut. Unter anderm mit Porträts vieler Extrembergsteiger/-innen von damals, unter andern der hervorragenden Alpinistin, Feministin und engagierten Linken Loulou Boulaz.

rettner

„Klettern in kalten Nordwänden blieb in den 1930er-Jahren eine exklusive Betätigung für Männer. Mit einer Ausnahme: Loulou Boulaz. Und die Schweizerin hatte es nicht immer leicht mit den Befindlichkeiten des starken Geschlechts, wie der Genfer Alpinist Pierre Hoffman zu berichten weiß: „Als sie die Zweitbegehung der Grandes-Jorasses-Nordwand mit Lambert durchführte, waren da noch Gervasutti und ein anderer Italiener.  Und sie waren wirklich verärgert, dass Loulou dabei war, denn die Tatsache, dass sie eine Frau war, entwertete für sie die Tour.“

1935 war Loulou Boulaz bereits eine erfahrene Alpinistin und Reaktionen wie die von Giusto Gervasutti und Renato Chabod – zu ihrem Leidwesen – gewohnt. Zusammen mit Lucie Durand hatte sie einige Jahre zuvor eine erfolgreiche Damenseilschaft gebildet, doch zweifelte man in Bergsteigerkreisen die Leistungen der beiden (z.B. die erste Damenbegehung der Südwestwand des Dent du Géant 1933) regelmäßig an. „En montagne c’était le règne masculin“, erinnerte sich die Genferin viele Jahre später. Kein angenehmer Zustand für die leidenschaftliche Feministin, die übrigens oft im Vorstieg war: So auch im gefürchteten Plattengürtel der Jorasseswand, wo sie von Lambert gesichert wurde.
Auf ihre Tourenliste konnte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg so mancher Kletterer nur mit Neid blicken: Wie am Crozpfeiler führte sie mit Raymond Lambert 1936 auch an der Petit-Dru-Nordwand die Zweitbegehung durch. Und 1938 war sie mit ihrem langjährigem Lebenspartner Pierre Bonnant (Genf) als erste Frau an der Poire-Route der Brenva-Seite des Mont-Blanc erfolgreich, als insgesamt dritte Seilschaft. Mit Bonnant gelangen ihr 1943 zwei schöne Erstbegehungen an den Nordwänden von Zinalrothorn und Studerhorn. Nach dem Krieg – mittlerweile auch von den Männern längst akzeptiert – ging es unvermindert weiter, nicht nur im kombinierten Gelände, auch im extremen Fels: Nordwand der Aiguille Verte (1950), Walkerpfeiler (1952, 1. Damenbegehung; dabei verlor Boulaz durch Erfrierungen einige Zehenglieder, Pierre Bonnant mussten beide Füße fast vollständig amputiert werden). 1957 folgte die Ostwand des Grand Capucin (VI. Grad), 1960 die Nordwand der Großen Zinne. Noch im Alter von 61 Jahren stieg sie gemeinsam mit Yvette Vaucher durch die Nordostwand des Piz Badile! An der Eigerwand hatte sie hingegen kein Glück: Insgesamt vier Versuche scheiterten, wobei der gelungene Rückzug aus der Rampe im Jahr 1962 ein Meisterstück war. Loulou Boulaz, Michel Vaucher, Michel Darbellay und Yvette Vaucher waren damals Tagesgespräch, den beiden Nordwandfrauen wurde größter Respekt für ihre Leistung bei miserablen Verhältnissen gezollt. Die Zeiten hatten sich geändert: Nun gab es neben Boulaz schon deutlich mehr Spitzenbergsteigerinnen als 25 Jahre zuvor, Frauenalpinismus wurde langsam akzeptiert. Leider gab es auch Rückschläge, wie 1959 am Cho Oyu (8188 m). Die Gipfelmannschaft der Frauenexpedition unter Claude Kogan wurde Opfer einer Lawine; Kogan, zwei weitere Alpinistinnen und zwei Sherpas kamen ums Leben. Auch Boulaz war Expeditionsmitglied – und hatte Glück: Ein Ödem hatte sie zum Verbleib im Basislager gezwungen.

Loulou Boulaz war aber alles andere als nur eine Bergsteigerin. Als talentierte Skifahrerin gehörte sie ab Mitte der 1930er-Jahre der Schweizer Ski-Nationalmannschaft an. Den Leistungssport betrieb sie mit demselben Ehrgeiz wie den Alpinismus: Sie liebte den Wettkampf, wie sie offen zugab.

Mindestens ebenso wichtig wie die sportlichen Aktivitäten war Loulou Boulaz ihr Leben lang ihre politische Aktivität für die Linken. Aus dem Genfer Arbeitermilieu stammend, engagierte sich die nur 1,53 m große Boulaz bis ins hohe Alter bei Flugblattaktionen und Demonstrationen, arbeitete bis zu ihrer Pensionierung Anfang der siebziger Jahre als Funktionärin im BIT (Bureau International du Travail) in Genf. Auch im Ruhestand war die  Westschweizerin weiterhin aktiv: Neben ihren Studien der Geschichte und Soziologie an der Universität blieb sie auch dem Skifahren und dem Klettern treu – bevorzugt am Salève, dem Genfer Klettergebiet, wo sie 1928  damit begonnen hatte.“

So porträtiert der deutsche Alpinhistoriker Rainer Rettner die Genfer Alpinistin Loulou Boulaz in seinem neuen Buch „Wettlauf um die grossen Nordwände. Matterhorn – Grandes Jorasses – Eiger“. Dass der bekannteste Alpinist der Schweiz, Ueli Steck, gerade in diesen Wänden seine Durchsteigungsrekorde aufstellte und darüber das Buch „Speed“ schrieb, ist ja kein Zufall.

Um die düsteren Wände oberhalb von Grindelwald, Chamonix und Zermatt fand in den 1930er Jahren ein wahrer Wettlauf statt: Die besten (und vielleicht auch nur mutigsten) Alpinisten kämpften mit eisigen Schwierigkeiten, schlechten Verhältnissen und hohen Erwartungen. Nicht alle waren all dem gewachsen. Die Geschichte um die „drei letzten Probleme der Alpen“, wie man damals sagte, ist schon oft erzählt worden. Aber noch nie so genau und mit so starken Bildern, wie dies Rainer Rettner in seinem neuen Buch tut. Souverän schildert der Eigerspezialist den alpinistischen Wettkampf unter und in den drei Wänden, lässt Teilnehmer selbst zu Wort kommen, porträtiert Sieger und Verlierer (neben Loulou Boulaz noch Alfred Horeschowsky, Franz und Toni Schmid, Armand Charlet, Giusto Gervasutti, Ludwig Steinauer, Rudolf Peters, Martin Meier, Hias Rebitsch, Ludwig Vörg, Anderl Heckmair, Fritz Kasparek, Heinrich Harrer, Riccardo Cassin, Luigi Esposito und Ugo Tizzoni). Und, ganz wichtig, verdienstvoll und eindrücklich: Rettner hat viele noch nie veröffentlichte Fotos „ausgegraben“. Die Foto von Toni Schmid zum Beispiel, mit dem gerupftem Huhn in der Lescaux-Hütte unter den Grandes Jorasses, sie musste erst mal gefunden werden, rund 75 Jahre später.

So nahe dran war man den Extrembergsteigern von damals noch nie. Nordwand-Authentizität pur.

Rettner, Rainer: Wettlauf um die grossen Nordwände. Matterhorn – Grandes Jorasses – Eiger. AS Verlag, Zürich 2010, Fr. 49.80.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert