Über den deutschen Kartographen, der nie einen Eisberg sah, aber den Engländern erklärte, wie sie ihren verschollenen Helden Franklin im Polarmeer finden würden.
„Die Welle von groß angelegten Landesvermessungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stellt das Kielwasser von Napoleons militärischen Innovationen dar. Die Modernisierung der Kriegsführung, die Einführung von beweglichen ‚Divisionen‘ etwa, deren Aufgabe darin bestand, nach Maßgabe lokaler Gegebenheiten auf eigene Faust zu operieren, machte präzise Geländekenntnisse zu einem strategischen Muss. Die topografische Karte, so wie wir die bis heute kennen, ist eine Kriegsgeburt. Noch die harmloseste Bergwanderung wäre demnach auf den Missbrauch von Heeresgerät angewiesen.“
Das ist das Starke an Philipp Felsch, dem an der ETH in Zürich arbeitenden Wissenschaftshistoriker: Er schreibt kenntnisreich von Gestern (ok, das ist ja sein Job), stellt überraschende Bezüge zum Heute her (das schafft schon nicht jeder), und wie er schreibt, hat Stil.
Das jüngste Beispiel: sein Buch über den deutschen Kartographen August Petermann. Über einen leicht verschrobenen, aber genialen Kartenzeichner, der nie weiter als Schottland kam, der nie einen Eisberg sah, der aber ausgerechnet den Engländern erklärte, wie sie ihren im hohen Norden verschollenen Helden Franklin, oder wenigstens dessen Überreste, finden würden. Seine „ernsthaften und besonnenen Berechnungen“ hatten ergeben, dass sich rund um den Nordpol ein offenes Polarmeer befinden müsse und dass Franklin mit seinen Schiffen dort eingedrungen sei. Der Pol, erklärte Petermann, sei der „Schlüssel zu den physikalisch-geographischen Phänomenen der ganzen nördlichen Hemisphäre“ und östlich von Spitzbergen leicht über offenes Wasser zu erreichen.
Petermanns Prognosen, Denkschriften und spekulativen Seekarten dienten den grossen Polarexpeditionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als verhängnisvolle Wegweiser. Schiffe gingen verloren, Mannschaften verhungerten, das offene Polarmeer wurde niemals gefunden. Das Ende des Wettlaufs zum Nordpol im Jahr 1909 erlebte August Petermann nicht mehr. Wie es sich für Polarhelden gehört, starb er tragisch: Im September 1878 schoss sich Petermann in Gotha eine Kugel durch den Kopf, auf dem Schreibtisch der Entwurf seiner nächsten Nordpolexpedition.
Die Deutsche Antarktis-Expedition 1938/39 benannte drei Gebirgszüge Petermann-Ketten. Die Petermannspitze (2800 m) erhebt sich in Ostgrönland, ein Kap Petermann gibt es sowohl auf der russischen Nordpolarmeerinsel Nowaja Semlja sowie auf Spitzbergen, Petermannfjorde erstrecken sich dort und in Nordwestgrönland. Und ein Mondkrater trägt ebenfalls den Namen Petermann.
Im Rahmen der Gothaer Kartenwochen wird am 31. Mai 2010 die Ausstellung „Der Kartograf der Kälte. Wie August Petermann den Nordpol erfand“ mit einer Buchpräsentation von Philipp Felsch auf Schloss Friedenstein in Gotha eröffnet. Die Ausstellung dauert bis zum 18. Juli. Weitere Infos unter www.freundeskreis-forschungsbibliothek-gotha.de
Philipp Felsch: Wie August Petermann den Nordpol erfand, Luchterhand Taschenbuch, München 2010, Fr. 22.90