Die Sonnenstube der Schweiz einmal ohne Sonne im Fels – eine eigenartige Mischung von Melancholie und Glück zum Beginn eines schwierigen Jahres.
Tessin grau, obwohl die Wetterschwätzer auf Radio DRS Sonne versprochen haben, aber vielleicht haben wir uns in dem Wortschwall verhört. Jedenfalls weht uns schon in Bellinzona auf dem Bahnsteig kühle Luft ins Gesicht und weiter im Süden dräut dunkles Gewölk. Tessin grau, das ist Melancholie, und sie steigert sich im Bus, der am Friedhof Solduno vorbeifährt, wo die Asche meines Vaters in einem Fach lag, inzwischen wohl längst entsorgt. Die Tessiner Felsen so grau und düster, beinahe schwarz, steigern die Melancholie an den Rand der Depression. Es ist der erste Tag eines neuen Jahres, das gemäss Tagesbefehl der Regierung mit Zuversicht beginnen sollte – Welt- und Finanzlage zum Trotz – und nun streikt schon das Wetter, auch wenn die Wetterprahler Zuversicht versprüht haben. Im Norden, denkt man, wedeln sie jetzt hoch über dem Nebel durch Pulverschneehänge und trotzen der Lawinengefahr. Dann fällt mir auch noch ein, dass uns vor genau zwanzig Jahren am ersten eines neuen Jahres ein horribler Kletterunfall mit bizarrer Rettungsaktion an der Falesia del Silenzio einige bange und chaotische und kalte Stunden bescherte und schliesslich auch ein literarisches Werk: «Finale». Melancholie, so haben wir vor zwei Tagen an einer Annemarie-Schwarzenbach-Lesung erfahren, ist eine Quelle von Poesie. Siebzig Jahre ist’s her, dass die Schöne vom Fahrrad gefallen und bald darauf gestorben ist.
Aber jetzt sind wir in Ponte Brolla, erfahren erst später, dass zwei Freunde oben auf dem obersten Band, zu dem wir uns an den Ketten hochhangeln, von Finale her gekommen sind. Dort soll das Wetter noch grauer sein. Vorerst treffen wir auf frierende Gestalten, die in Daunenjacken und mit Handschuhen klettern – wir haben bloss T-Shirt und Faserpelz, im Vertrauen auf die Wetterschmöcker von Meteoschweiz und Radio DRS. Aber es geht dann doch, und ein bisschen drückt sogar die Sonne durch den Graufilter, und dann treffen wir auf alte Bekannte, hallo, hallo, das motiviert und alles ist wieder gut und das Leben nur Glück und Augenblick, frei nach Goethe. Der blieb bekanntlich auf dem Gotthard stecken, hatte noch kein GA wie wir, und das ist ja der Grund, dass wir so oft in Ponte Brolla klettern: bestens erreichbar mit ÖV, im Zug gibt’s Kaffee und Gipfeli und lesen kann man auch, nicht Goethe sondern Altherrenlektüre: Nabokov, Lolita.
Ja, Marcel ist da, der liebe Marcel. Letztmals trafen wir ihn mit einem Baby im Traggestell auf der Galerie, jetzt hat das Ex-Baby, seine Tochter, grad die Matura bestanden, und der jüngere Sohn ist schon Schweizermeister im Speedklettern. Mein Gott, das Leben. Also Goethe folgen, den Augenblick geniessen und Routen wie «Anarchia sotto l’albero di natale». Marcel legt wert auf der vollen Namen, der aus einer Zeit stammt, als Routennamen noch Poesie waren oder Politik oder beides.
Und dann pfeift schon das Züglein in der Tiefe, noch eine Route liegt drin, und die Sonne wärmt schon ein bisschen, bevor sie dann hinter den düsteren Tessiner Hügeln verschwindet und wir den kalten Ketten entlang wieder hinabtauchen und hoffen, in Locarno reiche es noch für einen Blitzbesuch im Café oder wenigstens für qualcosa di dolce. Buon Anno, arrivederci Ponte Brolla.