Als Ureinwohner der Schweiz bezeichne ich neben den Muotathalern klar die Appenzeller. Beide sind sie eigenständiges und urchiges Schweizervolk. Die Appenzeller aber sind unerreicht. Wer sonst ist so verschwiegen wie sie? © Annette Frommherz
Der Tag war wie gemacht, um die Dringlichkeiten im Büro auf die lange Bank zu schieben. So stahl ich mich vom Alltag weg. Bodenständig lag das Appenzell vor mir. Weiche Hügel zierten grün die Landschaft, und auf dem Hohen Kasten lagen kümmerliche Resten von Schnee. Es roch nach Frühling. Am nördlichen Ende der Alpsteinkette liegt die Ebenalp. Von Weissbad aus verläuft der Wanderweg in Schlangenlinien Richtung Felsenwand, die mich mit ihrem gelblichen Kalkgestein daran erinnerte, dass bald Klettern angesagt ist. Wasser tropfte von der überhängenden Wand auf meinen Kopf. Die Wirtschaft Aescher lag verlassen da, noch ganz im Winterschlaf. Nach dem Waldkirchli, das in einer Kalkhöhle beherbergt ist, gelangte ich zum nebenan gelegenen Höhlensystem. Dunkelheit empfing mich. Eine Weile stand ich einfach da und hörte den Tropfen zu, wie sie von der Decke mit einem hellen Plopp zu Boden fielen. Der Ausgang der Höhle sollte mich nahe zur Ebenalp bringen, aber es lag an dieser schattigen Stelle eine Menge Schnee und versperrte mir damit den Durchgang. So lief ich zurück, Höhle, Waldkirchli, Aescher bald hinter mich lassend, und stieg entlang der Zislerwand die Anhöhe hinauf. Bis dahin war ich keiner Menschenseele begegnet, ausser in und um Weissbad, wo mir summa summarum vier Traktorfahrer zugewinkt hatten. Ich bildete mir nichts darauf ein. Später wurde mir bewusst, dass alleine wandern wohl schön ist, aber ohne Wanderkarte auch bedrohlich werden kann. Der Pfad verlief dem steilen Bord entlang, weiter hinten gar über eine Felswand, matschigen Stellen musste ich ausweichen, und in der Ferne protzte bereits der Säntis. Tief unter mir lag im Schatten der Seealpsee und vermochte mir nicht zu versprechen, ich würde weich fallen, sollte ich auf dem Weg ausrutschen. Bald erreichte ich die ersten Schneefelder, und spätestens da wusste ich, dass umkehren ein weiser Entscheid sein könnte. Drei Gemsen starrten zu mir hinüber, als wollten sie mich fragen, was ich hier verloren habe. Ich kehrte um.
Aber hatte ich anfangs nicht von einem Geheimnis gesprochen? Geduld bringt vielleicht Rosen. Oder Krokusse. Wer weiss. Bei der Wirtschaft Aescher setzte ich mich auf eine Bank ins Sonnenlicht und kam nicht umhin, mein Brötchen mit zwölf Bergdohlen zu teilen.
Wer bis hierhin durchgehalten hat, dem sei die Hand geschüttelt, denn endlich kommen wir zum Kern der Sache. Während die Muotathaler eher das Wetter schmöcken, sind die Appenzeller klar die Geheimniskrämer. Keiner der Eingeborenen würde das Rezept des Appenzeller Käses herausrücken, das ist Ehrensache. Sie halten so dicht wie die Gummistiefel des Bauern, den ich beim Abstieg im steilen Wiesengelände traf und der sich beim Zäunen gerne von mir aufhalten liess. Wir fachsimpelten über die Vor- und Nachteile von Stacheldraht; schliesslich konnte ich von meiner vagen Alp-Erfahrung letzten Sommer einiges einbringen. Auf die Frage, ob er mir das Rezept des Appenzeller Käses verraten möge, wurde er wortkarg. Spannung lag mit einem Male in der Luft. Sogar die Krokusse, die auf den Matten ihre Köpfe aus der Erde drängten, hielten mit Wachsen inne.
Auch im Dorf unten fand ich niemanden, der das Geheimnis lüften und mich damit zur Mitwisserin machen wollte. Nicht die Frau in Schürze, die im Garten weisse Leintücher an die Leine hängte. Nicht der Junge, der gelangweilt über den Kirchenplatz schlenderte. Und die Traktoren fuhren zu schnell an mir vorüber, als dass ich die Fahrer hätte fragen können.
Weissbad suhlte sich in der warmen Nachmittagssonne, als ich zurückkehrte. Zuvor musste ich mich bei den Bauernhöfen rund um das Dorf insgesamt gegen drei Appenzeller Hunde wehren, die mich heiser kläffend umrundeten und mir mit ihrem fletschenden Gebiss den Garaus machen wollten.
„Landsgmendchröm“ stand auf der Tafel beim Eingang einer Bäckerei. Diese Chrempfli brachten früher die Mannen den Frauen und Kindern heim; am letzten Sonntag im April, nachdem sie an der Landsgemeinde ihre Hand gehoben und im Bären eins über den Durst getrunken hatten. Seit die Frauen im Appenzellischen auch eine Stimme haben (seit anno 1990, also immerhin neunzehn Jahre nach der offiziellen Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz), werden die Chrempfli hier das ganze Jahr über angeboten.
Erschöpft von der erfolglosen Jagd nach des Rätsels Lösung verliess ich Weissbad, nicht ohne dem fünften Traktor hinterher zu winken. Die Landsgmendchröm brachte ich einer Heimweh-Innerrhödlerin, die sich mächtig freute. Aber auch sie verlor kein Wort, als ich sie nach dem Rezept des Appenzellers fragte.