Die Aare fliesst durch drei natürliche und sechs künstliche Seen. Der Wohlensee bei Bern entstand vor genau 100 Jahren.
«… ich tat eigentlich nichts auf und mit meinem Boot, ich träumte, das heißt, ich stellte mir vor, ich sei nicht auf dem Wolensee (sic!), sondern in einem norwegischen Fjord oder in Michigan oben, ein Trapper. Der See war kein richtiger See, nur eine Verbreiterung der Aare, obwohl er das Wort See im Namen trägt. Es gab da ganze Schilffelder mittendrin, wahre Verlandungen, und es gab Pfahlhütten, die Fischern gehörten, längs der Ufer, und der Wald trat überall direkt ins Wasser hernieder, er verdunkelte den See, der ein Waldsee war, ich ruderte mich durch die Schilfgebiete, flußauf, und ich ließ mich manchmal lange treiben, oder ich landete, spielte mir schwierige Landungen vor und richtiges an-Land-Treten, Neuland betreten war das, abenteuerlich, ich lebte ahnungsvoll andere Leben nach, Leben, die ich gelesen hatte oder die ich mir vorstellte, immer ging es um hartes wirkliches abenteuerliches Leben, nicht um Mußestunden, nicht um Sport, nicht um Erholung. Der Wolensee war mein Gedanken-, Wunsch- und Sehnsuchtsraum, in welchem ich Leben vorausnahm, Leben, das in der Berner Länggasse, die mich bisweilen mit einer tödlichen Öde überfiel, nicht stattfand.»
Wer „Paul Nizon Wohlensee“ googelt, erhält auf www.literatur-karten.ch obigen Ausschnitt aus dem Buch „Das Jahr der Liebe“ (1984) des Schweizer Autors, der seit 1977 in Paris lebt. Ich las diese Passage zum ersten Mal im eben herausgekommenen Bildband „Wohlensee“ von Hans Markus Tschirren mit Fotos von Alexandra Hertig. Nizons Erinnerung ist eingeklinkt auf eine Doppelseite, die den herbstlich angehauchten See zeigt, mit einem baufällig wirkenden Bootshaus im Vordergrund, das auf dem gestauten Aarewasser zu schwimmen scheint. Seit Montag, 23. August 1920, wird das gemacht. Heute vor genau hundert Jahren wurde der Stollen geschlossen, durch den die Aare floss, als das Wasserkraftwerk Mühleberg von 1917 bis 1920 gebaut wurde. Und der Wohlensee entstand und überflutete 20 Bauernhöfe. Geblieben sind die Grundmauern des Mäder-Hofs unter dem Schürhubel; dort brachte einst die Schüür-Fähre die Leute über die Aare. Fünf Brücken führen über den Wohlensee, von der Halenbrücke bis zur Wehrbrücke. Ob der Wohlensee allerdings bei der Halenbrücke beginnt (wie auf der Landeskarte der Schweiz zu sehen, wo das Gewässerblau heller wird), ist umstritten. Wer nämlich dort in der Aare schwimmt oder böötlet, wird unwiderstehlich flussabwärts getrieben; erst beim Stegmattsteg lässt das Fliessen nach.
Wer durch den 348seitigen, prächtig bebilderten Band paddelt, lernt Berns 12 km langen, 3,2 km2 grossen und bis 18 m tiefen Aaresee von allen Ufern und Untiefen kennen. Bilder aus den vier Jahreszeiten zeigen die Gegenwart des sechsten Sees, den die Aare auf dem Weg vom Oberaargletscher zum Rhein durchmisst, als beliebtes Naherholungs- und Sportgebiet sowie als naturbelassenen Lebensraum zahlreicher Tier- und Pflanzenarten. Ausserdem stellen zwölf Anwohner*innen ihren Wohlensee vor und erzählen spannende Geschichten. Einer ist allerdings schon lange tot: Gabriel Narutowicz, der Oberbauleiter des Wasserkraftwerkes; 1865 geboren im heutigen Litauen, Tuberkulose-Aufenthalt in Davos, Bauingenieur-Studium an der ETH, 1896 Einbürgerung in der St. Galler Gemeinde Untereggen, Professor für Wasserbau an der ETH. Am 9. Dezember 1922 wurde Narutowicz von der Nationalversammlung zum ersten verfassungsmässigen Staatspräsidenten Polens gewählt, am 16. Dezember von einem Anhänger der radikalen Rechten erschossen.
Wer den Wohlensee in libro und in natura erlebt hat, will bestimmt noch mehr wissen vom Aqua, das ihn ausfüllt. Dann kann ich dieses blaugrüne Buch von Stefanie Christ, Sabine Glardon und Maria Künzli allerwärmstens empfehlen: „Liebe Aare. Ein grafisches Fanbuch über den schönsten Fluss der Welt“. Witzig und wirblig, überlegen und überraschend crawlen die drei „Aarenixen“ vorbei an Geschichte, Gestade und Gestalten des längsten Flusses, der gänzlich innerhalb der Schweiz verläuft. Nur beim Flussverlauf haben sie einen Stausee vergessen: den Klingnauer Stausee; aber gut ein Kilometer später geht die Aare ohnehin unter. Die letzte Doppelseite bringt „Fünf Argumente gegen die Aare“; das fünfte lautet so: „Die Konkurrenz: Das Meer. Punkt.“
Hans Markus Tschirren: Wohlensee. Werd & Weber Verlag, Thun/Gwatt 2020, Fr. 49.- www.literatur-karten.ch/de/schauplatz/paul-nizons-wohlensee
Stefanie Christ, Sabine Glardon und Maria Künzli: Liebe Aare. Ein grafisches Fanbuch über den schönsten Fluss der Welt. Werd & Weber Verlag, Thun/Gwatt 2020, Fr. 29.-