Geoffrey Winthrop Young

Geoffrey Winthrop Young (1876-1958) verlor im ersten Weltkrieg ein Bein, unternahm aber trotz der Behinderung grosse Touren in den Alpen.

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Plötzlich durchbrach ein verschwommener Eindruck den Nebel, ein Blick nach unten, auf Gletscher in erschreckender Tiefe… ich stürze wirklich… es bedeutet den Tod… Das muss in dem Augenblick gewesen sein, als sich das Seil zum erstenmal straffte und mich mitten im Sturz über die Wand hinaus aufhielt, denn der Nebel der grauen Ironie schloss sich wieder um mich zusammen… und verschwand bei meiner gewaltsamen Rückkehr zum Bewusstsein, als das Seil mich endgültig zurückhielt und ich wirbelnd im Leeren hing. Während meines ganzen Lebens bin ich stets augenblicklich vom Schlaf zu hellem Bewusstsein erwacht. Und auch jetzt wusste ich, noch bevor das Gefühl in den Körper zurückkehrte, dass ich aus grosser Höhe gestürzt war und ein solcher Sturz nicht ohne schwere Verletzungen abgehen konnte oder tödlich hätte enden müssen. Sofort bewegte ich Kopf, Arme, Schenkel — nichts gebrochen! Dann erwachten die körperlichen Empfindungen wieder — ein Schmerzen und Brennen im rechten Ellbogen und an der rechten Seite. Gleichzeitig blickte ich aufwärts. Hoch über meinem Kopf verschwand das dünngezogene Seil über einer zackigen Felskante — es musste durchgerieben, beschädigt sein — und konnte jeden Augenblick reissen —. In Sekundenschnelle hatte ich meine Chancen ausgewogen. Keine Menschenkraft konnte mich an einem einzigen Seil über jenen Überhang ziehen, besonders wenn ich bewusstlos werden sollte; unser zweites Seil, das von den beiden andern gebraucht wurde, war zu kurz und reichte weder bis zu mir, noch konnte jemand daran zu mir herabklettern; wir waren die letzte Partie am Berg, vor den nächsten zwölf Stunden war keine Hilfe zu erwarten; das Seil mochte sogar allein durch mein Pendeln reissen. Dumpfer Groll erfüllte mich. Der Tod war nur um ein paar Sekunden hinausgezögert worden. Alles hätte vorüber sein können. Jetzt kam noch das bittere Wissen um das bevorstehende Ende hinzu, das bewusste Erleben des Geschehens. Auf jeden Fall liess ich mich nicht durch Hoffnungen täuschen. Ich wollte alles Hoffen ausschliessen.

Aus: Geoffrey Winthrop Young: Meine Wege in den Alpen. Hallwag Verlag, Bern 1955

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