Der Frisch, der Berg, die Frau. So einfach ist das Frühwerk von Max Frisch wohl nicht zusammenzufassen. Er selbst hat sich ja von einigen Texten aus jener Zeit distanziert, als er noch ein tüchtiger Wanderer und Skitourist und vielleicht auch Kletterer war. Hier liegt nun eine Studie vor, die sich mit jenen Werken befasst, die manche Literaturpäpste auf den Index setzten, die inzwischen aber wieder entdeckt worden sind.
„Unterdessen bekommen sie auch im Tale langsam die erste Sonne, und im Dörflein unten, dessen braune Hütten sich wie eine Herde um das weiβe Kirchlein scharen, bimmelt es gerade zur Messe; ganz dünn, ganz fein und immer wieder vom Winde vertragen, schwebt der glashelle Klang empor.“
Idyllisch, nicht wahr? Dörflein, Kirchlein, glasheller Klang: Da wird einem wohl ums Herz. Beim Lesen, sicher auch beim Hören, wenn man an einem solch sonnigen Sonntag höher steigt, den Bergen zu. Wie dies auch Balz und Irene in dieser Szene tun, der Oberhornhütte entgegen. Balz und Irene? Moment mal! Das sind doch zwei Figuren, die im „Buch der Woche“ auch schon ihren Auftritt hatten. Stimmt – wir blättern kurz zurück:
„Es ist noch früh, als sie bereits auf einem Gipfel sitzen, die beiden andern, die die Oberhornhütte schon beim ersten Morgengrauen verlassen haben; es ist noch früh und besonders herrlich, wenn noch kein Dunst aus den vielen Tälern gestiegen ist, und alles leuchtet dann so frisch, die Gletscher und Gipfel, die nicht weißer, reiner sein könnten, und die Luft ist noch wie Glas, so hell und kalt, obgleich die Sonne schon spürbar wärmt.“
Uns hat das 1937 publizierte Buch „Antwort aus der Stille. Eine Erzählung aus den Bergen“ seit der Wiederveröffentlichung im Jahr 2009 auch erwärmt. Hoffe ich wenigstens. Greifbar heute als Suhrkamp Taschenbuch für knapp zwölf Franken. Wer nun mehr zu diesem zweiten Werk von Max Frisch lesen möchte – wie er sich damals dazu geäussert und warum er es später mehr oder weniger verleugnet hat, wie es sich situiert im Gesamtwerk von Frisch, aber auch in der allgemeinen Bergliteratur der Zwischenkriegszeit – kann zu einer Publikation greifen, die das Frühwerk von Max Frisch in neuem Licht erscheinen lässt. Lukas Schmid untersucht in „Reinheit als Differenz. Identität und Alterität in Max Frischs frühem Erzählwerk“ den Romanerstling „Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt“ (1934), die Romanfortsetzung der Reinhart-Geschichte „J’adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen“ (1943) sowie eben „Antwort aus der Stille“. Nur kurz: Alterität bedeutet nach de.wiktionary.org „Alter Ego, Andersheit, Differenz, Andersartigkeit“.
Eine starke Studie, die Schmid da vorlegt, gerade auch in Sachen Bergliteratur. Denn er kennt sich da bestens aus, zitiert aus Büchern, die normalerweise nicht im germanistischen Seminar stehen. Schmid schüttelt den Rucksack von Balz und Irene und natürlich von Max ganz gehörig aus, findet Neues und Vergessenes, untersucht die Auslegeordnung mit modernen Geräten. Wissenschaftlich gesagt, und ich zitiere hier aus der Verlagsvorschau: „Einem diskursanalytischen Ansatz verpflichtet, befragt die Studie die Frühwerke von Frisch mit dem Analyseinstrumentarium der Gender und Postcolonial Studies nach Entwürfen von Ethnizität, Nationalität, Geschlecht und Klassenzugehörigkeit.“
Keine Angst: So kompliziert ist der Text zum Bergroman von Max Frisch keineswegs. Kleine Probe gefällig, von Seite 99? „Statt an seiner ‚Partnerin‘ versucht Balz Leuthold, sich am Berg zu bewähren. Mit seinem Kraftakt am Nordgrat, seiner Bergbesteigung, kompensiert er das erotische Erlebnis der Liebesnacht, die nicht stattgefunden hat.“
Lukas Schmid: Reinheit als Differenz. Identität und Alterität in Max Frischs frühem Erzählwerk. Chronos Verlag, Zürich 2016, Fr. 48.-. www.chronos-verlag.ch