„Das Plätzchen ist idyllisch schön, und ganz in dem Geiste des Mannes, den man ehren wollte; und der Künstler, sein Landsmann, hat die edle Einfalt nicht verfehlt. Akazien, Platanen, Silberpappeln und Trauerweiden umgeben den heiligen Ort.“
Schriftsteller, Offizier und Weitwanderer Gottfried Seume über das Salomon-Gessner-Denkmal im Platzspitz beim Hauptbahnhof Zürich.
Wie heisst die literarische Hauptstadt Europas? Paris, Berlin oder Rom? Nicht Wien oder Genf? Wie wär‘s mit Zürich? Wo Salomon Gessner, Gottfried Keller und Max Frisch lebten und arbeiteten. Wo Ingeborg Bachmann, Therese Giehse und Else Lasker-Schüler Liebe und Zuflucht fanden. Wo Georg Büchner und James Joyce begraben sind. Die Zürcher Journalisten Esther Scheidegger lädt zu acht Spaziergängen durch ihre Heimatstadt ein – durch die Bahnhofstrasse und die Altstadt, über den Zürichberg und rund um den See (letzteres allerdings mit dem Schiff). Immer wieder machen wir Halt, sehen eine (unbekannte) historische Stätte vor Ort und eine alte Foto im Buch, lesen ein Zitat, lernen etwas kennen, kehren in einer hübschen Beiz ein. Man darf mit dem Führer aber auch im Lehnstuhl spazieren gehen. Was fehlt, ist ein Übersichtsplan zu den acht Touren. Und ein wichtiger Name: Hans Morgenthaler (1890-1928), „der letzte fromme Europäer“, wie er sich selbst nannte. Er war Mitglied des Akademischen Alpenclubs Zürich, schrieb mit „Ihr Berge“ grosse Bergliteratur und wohnte in Zürich an mindestens fünf verschiedenen Adressen, so auch an der Kirchgasse 25. An dieser Strasse waren unter anderen Ingeborg Bachmann, Friedrich Glauser, Franz Kafka und Gottfried Keller tätig. Keine schlechten Nachbarn fürwahr. Trotzdem: Esther Scheideggers Taschenbuch ist ein nützlicher Begleiter für alle kulturell interessierten Zürcher und Nicht-Zürcher. Wer noch mehr wissen will, nimmt Ute Krögers „Zürich, du mein blaues Wunder“ – Literarische Streifzüge durch eine europäische Kulturstadt (Limmat Verlag 2004) zur Hand, aber nicht in die Handtasche.
Esther Scheidegger: Spaziergänge durch das Zürich der Literaten und Künstler. Arche Literatur Verlag, Zürich-Hamburg 2008, Fr. 27.50
Daniel Anker
Von wegen Morgenthaler: Sein Buch „In der Stadt“ ist nicht nur eine Hommage an Zürich, sondern auch an den hiesigen Akademischen Alpenclub, dessen Präsident er war.