Zweifach St. Moritz

Friedrich Nietzsche hielt es vor über hundert Jahren nicht lange aus in St. Moritz – und so geht es heute noch manchen Besuchern angesichts dieses baulichen «Gerümpels zwischen Bad und Dorf» und den Pelz und Perlen tragenden Blondinen aus fernen Landen. Die Autorinnen und Autoren der besprochenen Bücher allerdings haben es ausgehalten und «die Stadt im Dorf» offenbar auch lieb gewonnen. Vielleicht braucht es dazu einfach etwas mehr Zeit, als sich Nietzsche nahm, – und wohl auch etwas mehr Geld.

Cover St. Moritz Stadt im Dorf

„Vor allem bei Erstbesuchern, die auf der Suche nach ihrer Vorstellung von St. Moritz durch den Kurort wandern, macht sich Ernüchterung breit. Ist dieses Gerümpel zwischen Bad und Dorf wirklich St. Moritz? Vor Ort laufen die geweckten Erwartungen ins Leere. Der Erfolg der Marke hat sich längst vom Gebauten gelöst. Der Tourist erkennt in der Summe von Einzelinteressen kein Gemeinsames mehr und verliert die Orientierung. Überwältigende Privatheit macht St. Moritz zum Nicht-Ort. Denn das Fehlen von öffentlichem Raum, der ‚Personen miteinander mischt und eine Vielfalt von Aktivitäten anzieht‘ [Richard Sennett, 1983], lässt das gesellschaftliche Leben versiegen. Dieses Nicht-ankommen-Können ermüdet, ‚hässlich‘ ist das Attribut der einen, von ‚Betonwüsten‘ sprechen andere. Anstelle eines freundlichen Willkommens durch die strahlende St. Moritzer-Sonne unterkühlen kalte Betten das Bild des Stadtdorfes. Hier wird nicht gewohnt, sondern Geld parkiert.“

Nicht eben sonnige Worte von einem Duo, das seit zwölf Jahren unter der berühmten Sonne von St. Moritz lebt und arbeitet. Cordula Seger ist Kulturwissenschaftlerin und Politikerin, Christoph Sauter Architekt. Nun haben sie zusammen mit Jan Alinče jun. und Dagmara Żukowska ein grosses und dickes, schönes und fundiertes Buch zu ihrem heimatlichen Ort verfasst. Es heisst schlicht „St. Moritz“ und hebt im Untertitel das Besondere dieses weltberühmten Fleckens im Oberengadin hervor: „Stadt im Dorf“. Zweiteilig ist auch das 275-seitige Werk. Einerseits eine mit starken alten und neuen (von Michael Peuckert) Fotos illustrierte Kulturgeschichte und Architekturkritik der Siedlung, die zwischen Dorf und Stadt hin und her wandert. Und andererseits ein mutiger, wahrscheinlich aber Papier bleibender Entwurf, wie der Ansammlung von Bauten zwischen Bad und Dorf, zwischen See und Berg ein neues Gesicht mit mehr öffentlichem Leben gegeben werden könnte. Wenn diese aufgezeichnete Zukunft wohl utopisch ist, so sind doch Vergangenheit und Gegenwart von St. Moritz noch nie so kompakt (und kritisch) gewürdigt worden. „Es geht darum, einen Marschhalt einzulegen und sorgfältig zu prüfen, wie St. Moritz auf Basis der Analysen, Auslegeordnung und Anregungen von Christoph Sauter und Cordula Seger seine bauliche Zukunft in die richtige Richtung steuern kann“, fordert Hans Peter Danuser von Platen im Nachwort.

Cover St. Moritz einfach

Danuser schrieb aber nicht nur dieses Nachwort, sondern auch ein ganzes Buch. „St. Moritz einfach. Erinnerungen ans Champagner-Klima“ nennt der ehemalige Kurdirektor von St. Moritz seine Memoiren. Der Hauptteil besteht aus 30 Geschichten über seine 30 Direktionsjahre von 1978 bis 2008, unter anderem über Heidiland und Polo auf Schnee, Alphornreisen und Schickimicki, Glacier Express und Gourmet Festival, Top of the World und auch Flops. Danuser erzählt aber ebenfalls über sein Leben zuvor und danach, über seine sonnige Wahl zum Kurdirektor und die schattige Ablösung.

Wer in den beiden Büchern wandernd las und liest, hat zwei Möglichkeiten, um das Champagner-Klima mit 322 Sonnentagen und parkiertem Geld vor Ort zu erleben: 1. einfache Fahrkarte lösen; 2. retour lösen. Als Unterkunft empfiehlt sich das Hotel Kulm. Nicolaus Guidon berichtete 1908 in „Engadin Express & Alpine Post“ über die Geschichte des Fremdenverkehrs im Engadin: „Schon im Jahre 1864 auf 1865 hielten sich im Kulm zwei fremde Gäste während des Winters auf, erholten sich von schwerer Krankheit und zogen dann gestärkt von dannen.“ Der Start der Wintertourismus vor 150 Jahren. In St. Moritz. Wo sonst?

Christoph Sauter, Cordula Seger: St. Moritz. Stadt im Dorf. Hier und Jetzt, Baden 2014, Fr. 89.-
Hans Peter Danuser: St. Moritz einfach. Erinnerungen ans Champagner-Klima. Somedia Buchverlag, Glarus/Chur 2014, Fr. 29.-
Buch-Vernissage: 25. November 2014, 19.30 Uhr, Buchhandlung Schuler, Chur
Buch-Präsentation: 3.Dezember 2014, 20.30 Uhr, Hotel Laudinella, St. Moritz.

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